Voll motiviert – Der Musikpädagogik-Podcast

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#09 Fabian Grolimund: Herausforderung ADHS

Trailer: «Voll motiviert – der Musikpädagogik Podcast» von Schott Music und Kristin Thielemann

Kristin Thielemann: Hallo, liebe «Voll motiviert»-Community. Heute habe ich einen ganz besonderen Gast hier in unserem Podcast. Es ist der Schweizer Psychologe und Lerncoach Fabian Grolimund. Gemeinsam mit seiner Kollegin Stefanie Rietzler leitet er die «Akademie für Lerncoaching» und gibt Seminare für Lehrpersonen und Eltern. Auf dem YouTube-Kanal der «Akademie für Lerncoaching» finden sich geniale Kurzfilme zu verschiedenen Aspekten rund um das Thema Schule und Lernen. Fabian Grolimund ist Spezialist dafür, dass sich Schülerinnen und Schüler mit ADHS, aber auch andere «besondere Köpfe» in der Schule wohlfühlen und hier motiviert und glücklich lernen können. Ich habe ihn zu uns in den Podcast eingeladen, weil ich sicher bin, dass wir Musikpädagoginnen und -pädagogen sehr von seinen Impulsen aus dem Schulalltag zu diesem Thema profitieren können. Außerdem hat mich seinen Elternratgeber «Erfolgreich lernen mit ADHS» immer wieder beim Schreiben des ADHS-Kapitels, meines brandneuen «üben & musizieren»-Spezialhefts «Ganz schön wild!» inspiriert. In «Ganz schön wild!» geht es aber um den Unterricht mit lebhaften oder unruhigen Schülern, ganz gleich ob mit ADHS oder ohne. Jetzt ist dieses druckfrische «Üben & Musizieren» Spezial gerade seit einigen wenigen Tagen erhältlich, aber mich haben schon so unglaublich viele tolle Feedbacks von euch erreicht: Ich bin in Social Media Beiträgen und auch in Stories markiert worden und bin schon gespannt, was da noch alles kommt. Danke, dass ihr euch die Zeit hierfür nehmt! Das berührt mich wirklich sehr, und es zeigt mir, dass die Zeit reif war für «Ganz schön wild». Das «üben & musizieren»-Spezial zum Thema unruhige Schüler. Aber nun zu unserem heutigen Gast Fabian Golimund der mir schon im Vorgespräch so einiges über sich verraten hat, was mich wirklich zum Schmunzeln gebracht hat. Herzlich Willkommen bei «Voll motiviert»: Fabian Grolimund, Co-Autor des Ratgebers «Erfolgreich lernen mit ADHS» für Eltern von Schulkindern. Hallo Fabian!

Fabian Grolimund: Hallo, vielen Dank für die Einladung.

Kristin Thielemann: Sehr gerne. AHDS – Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Störung. Das klingt sperrig. Wie bist du dazu gekommen, dich mit dem Thema ADHS zu beschäftigen?

Fabian Grolimund: Ich habe viele Seminare gemacht für Eltern, deren Kinder Mühe haben in der Schule. Und da kam immer wieder die Frage: Gelten denn eure Ratschläge auch für Kinder mit ADHS, ADHS? Und so sind wir ein bisschen tiefer in das Thema eingestiegen, fanden das sehr spannend, dann auch die Studien dazu zu lesen und zu schauen, gibt es dann ein bisschen spezifischere Tipps, Methoden für Kinder, die Mühe haben mit der Aufmerksamkeitslenkung, die hibbelig sind, impulsiv sind. Und das wurde dann so eine richtige Reise in dieses ganze Gebiet. Das hat uns unheimlich fasziniert. Und so ein Aspekt war auch immer, dass wir einfach mit den Eltern der Kinder, die ADHS haben, sehr gerne zur Arbeit zusammengearbeitet haben. Das sind oft sehr engagierte Eltern, die auch sehr dankbar sind, wenn man ihnen weiterhelfen kann. Was ich immer sehr schön finde: Bei den Seminaren zu diesem Thema haben wir auch immer ganz viele Papas dabei. Sonst kommen immer nur die Mütter bei den anderen Seminaren zum Thema Lernen oder Erziehung.

Kristin Thielemann: Echt? Ist das so?

Fabian Grolimund: Ja, das ist noch witzig. Ich habe immer das Gefühl, wenn man ein herausforderndes Kind hat, dann gibt es auf der einen Seite mehr Trennungen bei den Eltern. Also dass man sich nicht versteht oder dass man nicht übereinkommt, wie man mit den Kindern Beziehung und Erziehung leben soll. Oder man merkt, es müssen sich beide wirklich engagieren. Und dann, dann hat man tolle Elterntandems, die beide wirklich wissen: Es kommt auf uns an. Wir müssen dazulernen. Wir müssen aktiv sein. Ja, und das sind das sind einfach tolle Menschen, dann auch, um mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Kristin Thielemann: Aber das stelle ich mir ganz schön herausfordernd vor. Wenn du ein Kind hast, was wirklich so unruhig ist, dass es in der Schule kaum mitkommt, oder was vielleicht auch ADS, ADHS betroffen ist. Also die Eltern, die sind dann wahrscheinlich mit den Nerven doch ziemlich am Ende, oder?

Fabian Grolimund: Ja, die sind sehr belastet. Vor allem auch durch die Schule, also durch das zu Hause üben und Lernen müssen, was oft sehr konflikthaft ist. Also gerade bei den hyperaktiv-impulsiven Kindern gibt es sehr viel Streit. Da weigern sich die Kinder oft, die Hausaufgaben zu machen. Und bei den verträumten Kindern, also bei den vorwiegend unaufmerksamen Kindern, da ist es oft so, dass sich das über Stunden hinzieht, dass sie nicht anfangen, dass sie aus dem Fenster schauen, dass sie vor sich hinträumen, dass die Eltern ständig daneben sind, motivieren müssen, das Kind wieder Steuern auf die Hausaufgaben zurückführen müssen. Und das ist natürlich sehr, sehr anstrengend.

Kristin Thielemann: Ja.

Fabian Grolimund: Und ich denke, was ich auch immer sehe, ist, dass sich diese Eltern natürlich viele Sorgen machen, also dass die Kinder auch oft bedrückt sind, dass sie das Gefühl haben, sie gehören nicht dazu, sie sie haben keinen Platz und die Eltern müssen sehr, sehr vieles auffangen.

Kristin Thielemann: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass oft Eltern in die Musikschule kommen und sagen: Ich möchte meinem Kind was Gutes tun. Mein Kind soll ein Musikinstrument lernen. Das Kind darf dann verschiedene Instrumente ausprobieren und entscheidet sich dann oft auch für irgendwas. Und jetzt unterrichte ich ja Trompete. Und klar, die wirklich Hyperaktiven, die nehmen gern die Trompete, weil das ist dann wie so ein Sprachrohr für die auch. Und ja, so bin ich eigentlich zu dem Thema gekommen, weil ich sehr viele überdurchschnittlich unruhige Kinder in meiner Klasse hatte und dachte: Oh, ich müsste mich aber dringend mal mit dem Thema beschäftigen. Vielleicht gibt es da irgendwelche Rezepte, dass ich mit diesen kleinen «Unruhegeistern» gut umgehen kann. Ja, aber jetzt ist nicht jeder unruhige Schüler oder jede unruhige Schülerin auch gleich von ADHS betroffen. Profitieren eigentlich auch Schüler, die einfach nur unruhig oder lebhaft sind, von den Konzepten für ADHS-Betroffene?

Fabian Grolimund: Ja, also wenn wir Weiterbildung für Lehrpersonen machen, achten wir sogar sehr darauf, dass wir fast nur Dinge vermitteln, die eigentlich für fast alle Kinder hilfreich sind. Weil das ist das, was die Kinder mit ADHS wirklich brauchen, ist eigentlich Lehrkräfte, die einfach guten Unterricht machen, also die gut strukturieren, die klare Aufträge geben, die klares Feedback geben, die die Kinder im Blick haben, die begleiten können, die merken: Aha, jetzt hat ein Kind abgehängt, jetzt muss ich hin, jetzt muss ich eine Strategie vermitteln. Die brauchen oft einfach mehr als die anderen Kinder. Aber sie brauchen nicht unbedingt so etwas Spezielles.

Kristin Thielemann: Ja, das ist auch meine Erfahrung. Ich habe dann jetzt vor einigen Jahren mein komplettes Unterrichtskonzept umgestellt und ich spüre einfach, dass alle Schüler, also wirklich alle, hiervon profitieren, egal ob lebhaft, unruhig oder phlegmatisch. So eine gute Struktur, was du eben erwähnt hast, auch so eine lebendige und eine wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe und Unterrichtselemente, die meine Schüler gleichzeitig kompetent und glücklich machen plus eine Raumgestaltung und Atmosphäre, die auch beruhigend auf sie einwirkt. Und ich möchte hier von einfach nichts mehr missen. Nicht für eine einzige Sekunde von dieser Umstellung. Denn das ist nicht nur für meine Schüler ein unglaublicher Schatz, sondern auch für mich selbst. Ich unterrichte dadurch viel, viel lieber. Und dieser ganze ruhige Duktus, der überträgt sich auch auf meine Schülerinnen und Schüler mit allen positiven Folgen.

Fabian Grolimund: Ich denke, wenn man als Lehrkraft die. Kinder mit Artis hatte, es so ein bisschen als Chance sieht, um sich weiterzuentwickeln, dann kann man eben unheimlich profitieren für die eigene Kompetenz.

Kristin Thielemann: Das glaube ich. Aber nichtsdestotrotz macht das ja auch für Lehrpersonen häufig mal Stress, wenn man, wenn man solche unruhigen Schüler unterrichten muss. Und jetzt habe ich ihn «Ganz schön wild!» ein ganzes Kapitel zum Thema Stress geschrieben. Also wie kann ich mit Stress umgehen im Musikschulalltag? Und das fand ich jetzt auch sehr spannend, mich da den Konzepten zu nähern, was es da so gibt. Hast du eine Idee, was ich als Musikpädagogin machen könnte, wenn ich eine neue Gruppe übernehme, die wahnsinnig unruhig ist? Denn - ein wenig verschärft - halten meine Schülerinnen und Schüler ja in der Regel auch noch ein Musikinstrument in der Hand, mit dem sie sich mehr oder weniger gut bemerkbar machen können.

Fabian Grolimund: Ja, ich finde einfach schon einen ganz wichtigen Punkt immer: Wie starte ich in den Unterricht? Wie sehen die ersten drei Minuten aus? Und da fängt es oft schon an. Also wenn ich als Lehrkraft reinkomme und die Schüler sind schon drin und die wuseln schon im Zimmer rum. Dann habe ich einen schlechten Start. Ich muss vor da sein. Ich muss die Schüler in Empfang nehmen. Es hilft oft, wenn sie einen konkreten Auftrag haben. In der Schule machen die Lehrkräfte das oft so: Die Kinder werden an der Tür begrüßt und dann gehen sie an den Platz und nehmen ihr Buch und lesen ein bisschen. Und wenn das gut eintrainiert ist, solche Abläufe, dann kann das für Ruhe sorgen. Also dieses: Ich weiß, was auf mich zukommt. Es ist hier ein strukturierter Ort. Das hilft sehr. Ich weiß jetzt nicht, was beim Instrument da gut wäre, dass man schon mal hingeht, oder dass man… Also soll man das Instrument schon in die Hand nehmen oder nicht? Oder sollen die Kinder zuerst einfach mal absitzen und sich die Noten anschauen. Da wüsste ich jetzt nicht, wie man es machen soll. Aber ich finde so diesen klaren «wie kommen wir herein?» oder und «was machen wir als erstes?» - das finde ich wichtig!

Kristin Thielemann: Das kommt natürlich immer so ein bisschen auch auf die auf die örtlichen Gegebenheiten an. Also wenn du den Luxus hast, dass du wie ich zum Beispiel so einen kleinen Vorraum hast, dann kannst du natürlich auch sagen: Die Schüler packen ihr Instrument, ihre Noten dort aus, in dieser Ruhezone vor der Tür, kommen dann rein. Andererseits… ich mache es auch oft ganz gern, dass ich - ich unterrichte viel im Einzelunterricht - dass die Schüler zehn Minuten früher kommen und dann in die Stunde des vorherigen Schülers reinkommen zu einer fest definierten Zeit, wo ich dann auch ganz kurz vorher den anderen, der schon drin ist, drauf hinweise: «Pass’ auf, da kommt ja gleich der Nachfolgeschüler, der kommt dann rein.» Ich nehme mir auch Zeit, begrüßt den, der hat seine feste Ecke in der auspackt und dann plaudern wir so ein bisschen zu dritt. Das mache ich ganz bewusst. Dass da auch so ein so eine Art «Klassenfeeling» entsteht, steht unter meinen Schülern. Das finde ich ganz, ganz wertvoll. Wenn du nicht nur so Einzelschüler hast, sondern wenn die sich auch untereinander kennen.

Fabian Grolimund: Ein bisschen zuhören dürfen.

Kristin Thielemann: Das ist es! Sich kennenlernen dürfen. Ich erinnere mich ja selber an meinen Klavierunterricht, wo ich da auch immer früher kam und das Mädchen vor mir mir etwas vorgespielt hat, oder wir mal ein paar Worte gewechselt habe. Ich habe heute noch Kontakt zu der. Also so lernen die sich so ein bisschen kennen. Es gibt einen fest definierten Ort, wo ausgepackt wird und dann mache ich es häufig so, dass ich mit einer Höraufgabe starte bzw. mit einer Höraufgabe die Stunde beschließe. In diesen zehn Minuten, wo dann die zwei zusammen im Raum sind, dass wir sagen: «Schau mal, wir hören mal das Stück, das neue Stück von dem Schüler, der jetzt schon da ist, das hören wir mal an.» Und ich habe auch so Matten im Unterrichtsraum, wo man sich dann hinlegen kann und wo man dann wirklich auch zur Ruhe kommt. Und dann bietet sich das natürlich bei Trompete an, das Ganze auch mit einer Atem- oder vielleicht auch mit einer Körperübung, mit einer Bewegungsübung zu verbinden. Das finde ich dann immer ganz hilfreich. Da habe ich auch einige solche Körper und Bewegungsübungen drin in «Ganz schön wild!».

Fabian Grolimund: Es gibt zu beiden Aspekten viele Studien, die zeigen, dass es hilfreich ist. Das eine, was du ja ansprichst, das geht so in Richtung Achtsamkeit, also dass man wirklich, ja, sich auf das Hier und Jetzt fokussiert. Das geht mit Zuhören sehr gut. Also das ist auch eine Möglichkeit. Ein paar Lehrkräfte haben das ausprobiert, dass die Kinder reinkommen und dass sie Musik anlassen. Oder die Kinder setzen sich hin, dürfen ein bisschen Musik hören, bis die Stunde startet. Wenn man ein Instrument hat, kann man ja wirklich auch zuerst etwas vorspielen, die Kinder ein bisschen ins Hören hineinbringen. Wichtig ist, dass sie so richtig ankommen können im Raum. Jetzt geht es um Musik, oder?! Und Bewegungsübungen sind gerade für die hyperaktiv-impulsiven Kinder auch sehr gut, um ein bisschen den Dampf abzulassen, ein bisschen im Jetzt anzukommen und sich dann auf etwas einzulassen.

Kristin Thielemann: Und was mir auch aufgefallen ist, dass gerade diesen unruhigen Schülern oder auch lebhaften Schülern – das müssen ja gar nicht unbedingt immer ADHS-Betroffene sein – aber dass es denen sehr, sehr gut hilft, wenn man so gewisse Balanceübungen macht, weil häufig ist das Körpergefühl gar nicht so da und deswegen wirken sie auch auf uns so unruhig und so lebhaft, weil sie sich halt permanent in irgendwelche Richtungen bewegen, mit denen wir gar nicht so rechnen. Und ich habe auch hin und wieder habe ich einmal ein Skateboard in meinem Raum und auch so ein Hüpfball und ich meine, das ist dann natürlich schon eher bisschen eine größere Herausforderung. Aber man kann ja auch auf irgendwas anderem balancieren. Es gibt ja auch so diese kleinen Bälle mit den Noppen. Das ist einfach auch ein schönes Gefühl für die Füße, man bekommt eine Balance für seinen Körper. Das finde ich ganz, ganz wertvoll. Aber eine Sache mach ich auf jeden Fall. Und zwar: Mein neues Unterrichtskonzept… Naja, so neu ist auch nicht mehr… seit wann mache ich das? Sicher seit vier Jahren. Mein Raum ist echt top aufgeräumt. Ist ja gar nicht meine Stärke, kann ich ja hier mal gestehen. Werden auch viele Menschen wissen, die mich kennen. Also ich habe unglaublich viel Zeug da. Ich bin das lebende kreative Chaos, aber mein Unterrichtszimmer ist top aufgeräumt. Da gibt es echt nicht eine Fläche, wo was rumsteht. Und ich habe jetzt auch – klar, Musiker haben immer viele Noten im Raum, musst du ja auch griffbereit haben - da habe ich sogar an die Regale jetzt einfach so Rollos dran geschraubt, die kannst du runterlassen und dann siehst du das ganze Chaos dahinter gar nicht mehr. Chaos ist auch zu viel, also die sind schon sortiert, die Noten, aber sie sind halt bunt und sie sind unterschiedlich groß und es sind viele. Und früher sind dann die Schüler öfter mal an den Schrank gegangen oder ans Regal und haben gesagt: «Oh, was ist das denn, dieses Heft und schau mal hier und schau mal da!» Und dann wurde hier geguckt und da geguckt und hier steht noch ein Trompetenöl und da steht noch irgendwie ein Atemtrainer und alles war interessant. Und das ist alles nicht mehr. Es ist, wenn du bei mir in den Raum kommst, du siehst es vielleicht hinter mir: Du fühlst dich mehr so ganz wie in so einem dunkelblauen Aquarium. Ganz ruhig.

Fabian Grolimund: Das ist so etwas, was ich oft auch den Lehrkräften mitgeben, dass wir sagen: Schauen Sie, dass Sie das Interessanteste sind im Raum, schaffen Sie nicht zu viel Konkurrenz. Oder wenn die Wände voll sind mit bunten, anregenden Sachen, dann wollen die Kinder natürlich gucken. Die wollen sich das anschauen, die wollen Sachen in die Hand nehmen, die da sind. Und da kann man sich auch ein bisschen unnötig schwer machen, wenn man das zu interessant gestaltet.

Kristin Thielemann: Ja, ich glaube das. Ich war kürzlich bei meinem Sohn im Unterrichtsbesuch. Ich dachte auch: ich schau mal so ein bisschen rum und ich schaue mal, wie er arbeitet und was er macht. Und als ich dann hinterher aus dem Raum kam, ich hatte wirklich alles gesehen und gelesen, was an der Decke, an den Wänden, an den Fenstern hing. Und es war so eine Fülle von tollem Material da in diesem Klassenzimmer, dass ich aber dachte: Okay, also ich habe mich eigentlich gar nicht so wirklich auf das konzentriert, was ich eigentlich wollte, nämlich auf mein Kind und stattdessen aber alles andere irgendwie gelesen. Und ich fürchte ja, das wird Kindern dann auch mal so gehen.

Fabian Grolimund: Ja, wie, wie, wie einfach, wie einfach machen wir es unseren Kindern, sich zu konzentrieren? Also sorgen wir vielleicht auch für wahnsinnig viel Ablenkung.

Kristin Thielemann: Das ist ja das gleiche mit dem, mit dem Arbeitsplatz oder mit da, mit dem vielleicht ein Musizierplatz, wo du dann zu Hause dein Kind musiziert oder wo der Schüler spielt. Da haben wir jetzt auch… Ich habe bei meinen Kindern jetzt sehr darauf geachtet, das ist, dass es auch Orte sind, wo sie musizieren, wo sie eben nicht abgelenkt werden und wo es nicht noch viel zu sehen gibt, außer das Instrument jetzt mal.

Fabian Grolimund: Ja, was ich da immer noch wichtig finde, auch… ich denke, das ist beim Musizieren ähnlich, weil bei den Hausaufgaben. Das, was ja vor allem ablenkt, sind Sachen, die einen auffordern, etwas anderes zu tun. Also wenn ich in meinem Kinderzimmer übe, wo meine Spielsachen sind, dann habe ich ständig Lust, etwas anderes zu tun. Und was aber wirklich helfen kann, ist: dass das Hausaufgaben machen, das Musizieren so ein bisschen dorthin zu holen, wo man sich wohlfühlt, wo man zusammen ist, oder in das Wohnzimmer, in die Küche. Nicht unbedingt so im abgeschotteten Kämmerlein.

Kristin Thielemann: Im Keller…

Fabian Grolimund: Ja, das ist schade.

Kristin Thielemann: Im schimmeligen Kellerraum. Geh üben!

Fabian Grolimund: Das kann ich mit so was haben, auch wenn man so das Kind aufs Zimmer schickt, um zu üben. Finde ich kann etwas haben von: «Störe mich nicht mit deiner Überei, oder?» Also dass man das ja ins Wohnzimmer holt und dann auch ein bisschen zuhört und Interesse zeigt.

Kristin Thielemann: Ja, ich weiß, du ich. Ähm, klar, Trompete ist ja jetzt nicht ganz leise. Wir haben auch Nachbarn. Dort, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir auch Nachbarn und meine Mutter hat dann ab und zu mal angemerkt und mein Vater auch: «Ja, muss es denn jetzt sein… Trompete!» Und ich habe dann gesagt: «Ja, eigentlich muss es sein, aber ich sehe das schon ein mit den Nachbarn.» Ich habe dann ganz oft mein Instrument genommen und bin rausgegangen in den Wald und da gab es so einen alten Jägerunterstand und ich bin immer auf diesen Jägerunterstand hochgeklettert und habe dann in den Wald reingespielt. Und ich kann mich dran erinnern wie…

Fabian Grolimund: Die armen Viecher!

Kristin Thielemann: Was? Die armen Viecher! Ich spiele schön! Die armen Viecher! Ja, ich kann mich dran erinnern, dass ich diese Atmosphäre da so sehr genossen habe, auch wenn es mal geregnet hat, dort oben zu stehen. Ich bin auch sicher, dass ich ziemlich viel länger dort oben geübt habe als zu Hause in meinem Kinderzimmer.

Fabian Grolimund: Sicher! Man ist ja dann extra hingegangen, oder? Dann kann man auch nicht nach fünf Minuten abbrechen. Und ich finde, ich finde das wunderbar. Also dieses Bild im Wald mit der Trompete so ein bisschen eine besondere Stimmung schaffen.

Kristin Thielemann: Ich habe das mal probiert, auch mit meiner Klasse. Da hatte ich wirklich sehr, sehr unruhige Schüler in meiner Musikklasse und da habe ich mal eine Weile lang Outdoor-Unterricht gemacht. Da habe ich auch einen Beitrag geschrieben für üben & musizieren. Den können wir sicherlich verlinken in den Shownotes. Und ich hatte da so einen ganz zauberhaften Ort. Es war ein kleiner Weiher am Waldrand und dahinter auf der Weide standen so ein paar Schafe. Die Sonne schien leicht durch die Blätter und es war einfach eine himmlische Ruhe. Nichts außer Vogelgezwitscher und ein bisschen Blätterrauschen. Ich hatte meinen Notenständer dabei. Trompete, Noten, ein bisschen was zu essen. Und die Schülerinnen und Schüler, die kamen dann immer zu ihrer Zeit an diesen Ort. Und ich, die waren jetzt mal ganz überrascht, aber auch beglückt. Es war, als wäre die Stunde auf einmal viel länger, aber gleichzeitig verging diese Zeit auch im Flug. Also es war wirklich intensiv und ich bin sicher, wir hatten da Flow-Erlebnisse am laufenden Band. Aber was natürlich nicht so einfach für jeden, der das mal ausprobieren möchte. Da muss man auch ein bisschen Glück haben mit dem Ort, an dem man unterrichtet ist. Ausnahmsweise mal der Musikpädagoge auf dem Land im Vorteil. Aber ja, möglicherweise findet auch der Städter seine Oase. Wer weiß. Ich habe das so bis zu einer Gruppengröße von 8 bis 10 Schülern ausprobiert und mit dem Outdoor-Unterricht. Und kürzlich, muss ich gestehen, ich hatte eine unfassbare Gruppe. Ich wurde angerufen, ich musste Vertretungsunterricht geben, Schulmusik. Und ich war zu der Zeit, als Sie mich anriefen, war ich im Auto. Aber ich habe gesagt: «Okay, ich lasse euch nicht hängen. Ich habe 40 Minuten. Ich komme schon hin zu eurer Schule.» Auf dem Weg dorthin ist mir aufgefallen. Ich habe eigentlich gar nichts dabei. Ich habe nur mein Handy. Und ich habe zufällig eine Bluetoothbox im Auto. Und dann bin ich auch mit dieser Gruppe in den Wald gegangen. Und ich kannte die Gruppe schon. Ich wusste, die sind eigentlich, die sind Katastrophe. Also die sind wie so kleine Silvesterkracher. Ein zündest du an und alle explodieren. Und dann sind wir in den Wald gegangen. Die Schüler durften sich dann ins Gras legen, in die Blätterkronen der Bäume schauen und wir haben dann gemeinsam Beethoven-Sinfonien gehört. Das war im Beethovenjahr jetzt. Und da kamen hinterher ganz viele Schüler und waren komplett, wie sagt man heute «geflasht» von dieser tollen Musik: «Frau Thielemann bin ich mega geflasht!» Die haben mir dann erzählt, dass sie am Nachmittag daheim sich auch noch mal in den Garten gelegt haben und noch weiter Beethoven gehört haben.

Fabian Grolimund: So schön! Musik zum Erlebnis machen.

Kristin Thielemann: Und das ist es ja. Stichwort Hausaufgaben. Fabian, vielleicht hast du noch einen Tipp. Können eigentlich auch Eltern helfen, damit Hausaufgaben leichter und mit Freude erledigt werden können? Also auch vielleicht das häusliche Üben daheim? Das würde mich ja bei dir als Lerncoach wirklich mal interessieren.

Fabian Grolimund: Ja, also ich finde, die Eltern können sehr viel dazu beitragen. Die können auch sehr viel kaputt machen. Also es gibt auch viele Kinder, die spielen ja eigentlich gerne im Musikunterricht, aber die wollen zu Hause nicht üben. Und ich finde es immer wichtig hinzuschauen. Schon mal die Motivation: Also weswegen will ich, dass mein Kind ein Instrument macht? Von wem ging es überhaupt aus? Ich fand es gerade so, ich habe das noch erlebt im Gymnasium, das hat einfach bei uns dazugehört. Ich war der einzige in meiner Klasse, der kein Instrument gespielt hat. Aber sonst hatte ich immer so das Gefühl, ein Akademikerkind lernt ein Instrument, oder? Und das war einfach so. Den Eltern ging es gar nicht um die Musik, sondern es ging darum, dass das so eine Art das gehört zu einer gesunden Gesamtausbildung, dass das Kind ein Instrument lernen muss. Und da muss man auch ein bisschen Disziplin lernen und dabeibleiben usw. Und das finde ich schon mal einen ganz wichtigen Punkt. Also, dass man als Eltern irgendwie zeigen muss, dass man Freude an Musik hat. Etwas, was man bei den Hausaufgaben oft hört und was ich denke, das ist beim Instrument üben genau gleich: Du, gell, du musst dann noch üben.

Kristin Thielemann: Etwas müssen ist nie gut.

Fabian Grolimund: Es geht einfach darum, dass das Kind 15 Minuten lang da vor dem Notenständer war und geübt hat. Und dann darf es dann spielen oder etwas anderes machen. Oder das Instrument ist Müssen und das andere Freizeit ist Dürfen. Und diese Unterscheidung finde ich schwierig. Ich finde, das macht vieles kaputt. Ich finde, das ist auch so etwas, wenn ich jetzt schaue, so meine Gymiklasse. Ich glaube, da haben ganz viele Instrument gespielt. Ich glaube, die haben alle dann mit der Schule oder wo sie ausgezogen sind, aufgehört in die Musikstunde zu gehen. Und das war wahrscheinlich auch das letzte Mal bei den meisten, dass die ihr Instrument in der Hand hatten.

Kristin Thielemann: Oh, das ist ja so schade.

Fabian Grolimund: Und der eine, der spielt immer noch heute, der hat seine Band und das war aber der, der nicht in die Musikstunde ging. Also das fand ich echt spannend. Das war für mich so der einzige, der eben nicht das Instrument geübt, sondern Musik gemacht hat. Der hatte auch seine kleine Band und er hat dann Auftritte gemacht. Und er hat die Musik so geliebt.

Kristin Thielemann: Das finde ich ganz toll, dass du das jetzt sagst.

Fabian Grolimund: Das fand ich auch vorhin wurde das gesagt hast mit dem Wald oder in den Wald gehen und dort Beethoven lauschen. Ich muss es ja wollen. Ich möchte. Ich muss an den Punkt kommen, wo ich sage: Ah, das wäre so schön, etwas spielen zu können. Ich muss mich über die Fortschritte freuen können. Und etwas, was ich oft erleb, bis dass man als Eltern das Gefühl hat: «Ja, ich höre jetzt hin. Und ja, das muss du schon nochmal üben. Jetzt kannst du es. Jetzt können wir dieses Stück abhaken und zum nächsten gehen.» Es wird gar nicht sich drüber gefreut über die Musik. Es wird gar nicht wirklich zugehört. Einmal im Jahr gibt es dann einen Auftritt, wo man möglichst keinen Fehler machen darf. Und das war auch so ein bisschen das, was ich oft mitgekriegt habe von Musik. Du hast gehört, am Anfang, ich weiß gar nicht, ob das jetzt drauf war, aber das gesagt: Das Instrumentalspiel ist ja freiwillig, oder? Und das habe ich eben dann oft nicht so erlebt bei Eltern, sondern sie sagen dann: «Ja, jetzt haben wir dir das Instrument gekauft und jetzt musst du auch lernen!» Oder: «Diese Schule, die kostet so viel, jetzt bist du uns auch schuldig…» Also es wird da oft so mit dieser Art von Druck gearbeitet, indem man den Kindern nicht sagt: Du musst, sonst kriegst du morgen von der Lehrerin einen Strich, sondern dass man halt mit Schuldgefühlen arbeitet: Wir geben da viel Geld aus und wenn du jetzt nicht übst oder dann nimmst du das quasi gar nicht… dann schätzt du uns gar nicht richtig und so. Und das sind einfach so Punkte oder so Sätze, wo ich denke, das ist der Freude an der Musik extrem abträglich.

Kristin Thielemann: Absolut, ja, da gebe ich dir total recht. Ich finde es einfach auch wichtig. Ich glaube, da sind wir Musiklehrpersonen auch gefordert, dass wir uns immer wieder bei den Schülern fragen: Klar, was ist mein kurzfristiges Ziel? Was ist vielleicht das mittelfristige Ziel mit dem Schüler? Das kann eine Arbeit, ein Erarbeiten eines bestimmten Stücks sein, vielleicht ein Stufentesten, ein Wettbewerb oder ein kleines Vorspiel vor den Eltern, Aufnehmen von irgendwelchen Videotutorials oder auch einfach nur mal so mal eine kleine Aufnahme zu machen. Aber was ist denn eigentlich das Langfristziel? Wo sehe ich diesen Schüler als erwachsenen Menschen mit seiner Musik? Und das finde ich, also diese Frage stelle ich mir einfach bei jedem Schüler und ich weiß, ich kann die jetzt nicht beantworten, wenn ich jetzt hier vielleicht einen Acht- oder Neunjährigen vor mir sehe, aber irgendwann kristallisiert sich das raus. Weil, wir begleiten ja die Schüler oft sehr, sehr lange Zeit. Und dann hast du irgendwann so eine Idee, wo du denkst: Der ist in einem Ensemble ist ja extrem gut aufgehoben. Ich spüre, das macht diesem Schüler Spaß. Wo könnte der denn mitspielen, wenn er jetzt ein Erwachsener ist? Und das finde ich oft sehr wertvoll. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass bei allen Schülern, wo ich das gemacht habe, dass die auch heute noch musizieren, ob jetzt, ich meine, ich habe extrem viele Schüler, die die auch Profimusiker geworden sind, also vor allem auch Musikpädagogen. Aber ich habe auch Schüler, die machen das heute noch als Hobby und spielen jede Woche irgendwo mit. Oder die haben auch selber, dass sie so in einem kleinen Rahmen unterrichten oder irgendwo assistieren, auch als Dirigent. Und hier in der Schweiz gehen halt viele gerne mal in die Militärmusik. Da sind sie dann auch jedes Jahr wie in ihrem «Musik-Bootcamp» und es genießen die auch sehr deswegen. Das finde ich wichtig, dass man da einfach auch nach dem nach dem langfristigen Ziel schaut als Lehrer, dass man schaut, wie kann ich die Musik als aktiven Bestandteil des Lebens meines Schülers integrieren.

Fabian Grolimund: Also ich, das ist so etwas, wo wir immer mit Lehrkräften darüber reden. Oder was ist die ihr langfristiges Ziel? Und dass man sich an dem orientiert, dass vielleicht ein Mathematiklehrer sagt: Ich möchte, dass meine Schüler lernen, dass Mathematik etwas ist, das man lernen kann. Dass es darum geht, zu lernen, ein bisschen beharrlich zu sein, etwas auszuknobeln, dass Ahaerlebnisse etwas Schönes sind. Dass ein Sportlehrer vielleicht sagt: Es geht nicht darum, dass sie den Feldaufschwung können, sondern meine Schüler sollen später Freude an Bewegung haben, nicht das Gefühl haben, das ist etwas Peinliches oder etwas Unangenehmes. Und ich denke, das ist auch so eine grobe Version könnte sein als Musik Lehrkraft: Ich habe dann Erfolg, wenn die Schüler, die ich heute hab als Erwachsene noch Freude haben am Instrument und das noch spielen oder das nicht so etwas wird… Und da habe ich eben oft das Gefühl, dass die Musiklehrkräfte das noch haben. Aber die Eltern dann zu Hause haben ein anderes Konzept. Die haben so ein «Müssen-Konzept». Hauptsache geübt, oder!? Und dann artet das in so eine Arbeit aus, die Motivation kommt ja immer aus dem gleichen. Wir alle haben die gleichen Grundbedürfnisse. Wir wollen gesehen werden, Anerkennung. Also das fand ich auch schön, was du gesagt hast: Da kommt der nächste Schüler rein und hört noch zu. Also wir können beim Kind, das musiziert, zuhören. Wir können zeigen Ich freue mich darüber, dass du spielst. Das ist etwas Schönes, Ein Moment, den wir teilen können. Ich kann auch dem Kind so ein bisschen beibringen hinzuhören. Also: Gefällt mir meine Musik selber und wenn man als Eltern Instrument kann, kann man ja auch zusammen musizieren.

Kristin Thielemann: Stichwort Familienmusik.

Fabian Grolimund: Ja. Ja.

Kristin Thielemann: Das ist so. Dieses musikalische Umfeld daheim.

Fabian Grolimund: Ja.

Kristin Thielemann: Finde ich, finde ich ganz wichtig. Ich habe ja. Das war mein erstes Buch, was ich bei Schot Music geschrieben habe. Guck mal hier. Also die Hörerinnen und Hörer sehen das jetzt natürlich nicht, aber… «Jedes Kind ist musikalisch»

Fabian Grolimund: Daran glaube ich fast nicht mehr.

Kristin Thielemann: Du glaubst nicht daran?

Fabian Grolimund: Das war schrecklich bei mir: Ich habe einfach den Rhythmus nicht gefunden. Ich habe das wie nicht gehört. Und ich weiß noch, die erste Erfahrung war wirklich: Ich sitze im Kindergarten ganz verkrampft mit diesen Schlaghölzern und ich guck immer, wann die anderen schlagen und versucht das mitzumachen. Und es ist im falschen Moment. Und die Lehrerin guckt mich immer so streng an und sagt: «Fabian, du bist nicht im Takt, oder?» Und ich versuche noch krampfhafter konzentriert irgendwie diesen Takt herauszuhören. Ich hatte immer mit Musik solche Erfahrungen. Dann musste ich Blockflöte spielen. Das musste man bei uns, bevor man anderes Instrument macht. Ich fand die Übungsstunden einfach schrecklich. Habe mich dann geweigert, nach einem halben Jahr. Und dann war noch an der Kanti Solothurn (Anm.: Die Kantonsschule der Schweiz entspricht der gymnasialen Oberstufe in Deutschland)… Da hatten wir einen Singlehrer und der hat gesagt: Jeder kann singen! Jeder kann das, oder?

Kristin Thielemann: Und da stimme ich deinem Kanti-Lehrer zu.

Fabian Grolimund: Gell? Dann habe ich vorgesungen und dann hat er gesagt: Fabian, es gibt doch Ausnahmen. Und ich war der einzige von allen Klassen mit einer ungenügenden Note.

Kristin Thielemann: Ja, aber du hast es natürlich schon so, du hattest natürlich schon so schlechte Erfahrungen mitgenommen. Also ich mache es so, ich schick es dir. Ich habe noch das eine Exemplar hier, aber ich schick es dir auf jeden Fall.

Fabian Grolimund: Ich habe dann später mal im Studium angefangen, Tango zu tanzen und dort habe ich neuen Zugang gefunden zur Musik. Ja, aber das war wirklich sehr, sehr entmutigend diese ersten Erfahrungen und sehr eben auf dieses «Es geht darum, es richtig zu machen» reduziert. Das finde ich eben wirklich eine schwierige Sache.

Kristin Thielemann: Stichwort Fehlerkultur? Ja, darum geht es ja auch in diesem Buch, dass man da bei den Eltern überhaupt mal so ein Mindset herstellt. Also wenn Eltern das jetzt lesen, dann entdecken sie sehr viel auch, warum es schön sein kann, ein Musikinstrument zu erlernen und wie sie das unterstützen können, wie sie dieses musikalische Umfeld daheim eben auch nutzen können, wie Sie das überhaupt herstellen können. Und da sind ganz vielfältige Kapitel drin: Übelust statt Übefrust. Und da geht es eben auch genau um solche Aspekte. Und ich habe dann die Erfahrung gemacht - ich gebe das einfach Eltern immer routinemäßig, wenn sie das Kind bei mir anmelden zum Trompetenunterricht, dann kriegen Sie das Buch dazu. Und jetzt hat kürzlich ein chinesischer Verlag - guck mal hier, hat es übersetzt - und dann dachte ich: Es ist ja eine sehr liberale europäische Vorstellung von glücklichem Musizieren, die dort in «Jedes Kind ist musikalisch» vertreten wird und dann hatte ich mit der Dame vom chinesischen Verlag gesprochen, und da haben wir noch zwei Kapitel zum Thema Hochleistungsförderung eingefügt. Aber lustigerweise werde ich immer wieder darauf angesprochen. Ich habe zwei Extrakapitel dazu hinzugefügt. Und lustigerweise werde ich immer auf diese beiden Kapitel angesprochen, ob man die nicht auch mal lesen könnte hier in Europa. Ich bin ja ganz gespannt, ob da noch mal irgendwer auf die Idee kommt, dass man eine Neuauflage von dem «Jedes Kind es musikalisch» macht und die dann da hinzufügt, respektive das auf anderen Wegen den Lesern zugänglich macht.

Fabian Grolimund: Da bin ich gespannt. Freue ich mich, wenn du mir das zuschickst.

Kristin Thielemann: Wir sind ganz kurz beim Thema Fehlerkultur vorbeigekommen. Wie stehst du denn zu dem Satz: Sehr gut ist nur, was fehlerfrei ist.

Fabian Grolimund: Ja, ich fand es witzig. Jetzt, wo du das sagst. Eine Kollegin von mir, die hat Gitarre gespielt und sie hatte so ein Vorspiel. Es war schon im Studium. Und ich bin zusammen mit meiner Frau hingegangen. Und sie hat gesagt, jetzt kommt da noch einer, der ist gerade so beim Abschluss vom Konservatorium. Der spielt so ganz gut und könnt ihr euch drauf freuen. Und dann hat er das perfekt gespielt, also sein Lied - und komplett seelenlos. Also das war einfach... Ich habe dann zu meiner Frau beim Nachhausegehen gesagt: Du, warum hat mir das überhaupt nicht gefallen? Ich fand das irgendwie schrecklich. Und dann hat sie gesagt: Ja, ich auch. Komisch, oder!? Dann haben wir genau so gedacht: Er hat das wirklich gespielt wie ein Automat.

Kristin Thielemann Ja, sowas berührt einen dann nicht.

Fabian Grolimund: Das ganze Stück abgearbeitet, perfekt, kein einziges Mal verspielt und mit so einem ernsten Gesicht, leblos hatte dieses Instrument so bearbeitet. Das fanden wir sehr eindrücklich, dass man etwas eben perfekt und gänzlich ohne Liebe spielen kann und dass es dann eben kein Genuss ist. Und etwas, was ich auch mal gelesen habe, ist, dass das, was oft so die Musik ausmacht, oder den Musiker, ist so seine persönliche Signatur. Also dass Musiker ja auf eine Art wie kleine Abweichungen haben von diesem Perfekten. Und daran erkennt man sie und das ist oft das, also dass dieser Musiker bei diesem Lied die eine Note ein bisschen länger spielt, das man erwartet hätte. Also das erzeugt so eine kleine Irritation und das macht es aber auch schön. Ich finde das ganz wichtig bei vielem, dass man sagt: Ja, es geht darum, genau hinzuhören, zu schauen, wie spiele ich etwas. Ich schreibe ja Bücher und da geht es eben auch nicht darum, einfach möglichst fehlerfrei oder perfekt zu schreiben. Das ist wichtig, das Handwerkszeug. Aber es geht eben auch darum, hinzuhören. Also, dass ich einen Satz lese und ich sage: Kommt diese Botschaft rüber? Wie klingt der?

Kristin Thielemann: Also deine Bücher lesen sich ja vor allem so schön, weil sie so persönlich sind. Sie treffen ja den Leser so unmittelbar. Wenn man das liest, dann hat man den Eindruck, man kennt dich. Ich habe auch jetzt im Gespräch den Eindruck, ich kenne ich schon sehr lange, obwohl ich also wirklich nur die Bücher gelesen habe und wir uns jetzt heute zum ersten Mal sehen, hier im digitalen Raum. Aber es kommt so schön rüber, was du meinst, weil es so persönlich geschrieben ist. Und wenn man das jetzt wahrscheinlich nur so faktenorientiert geschrieben hätte, dann wäre das auch sehr kalt, so wie du das eben bei dem Konzert beschrieben hast.

Fabian Grolimund: Ja, und ich denke, das ist also wie gesagt, ich weiß nicht so viel über Musik, weil ich selber nie ein Instrument gespielt habe, aber ich glaube, es geht darum, dass man vor allem bei den Kindern das Gehör schult. Also lerne dir selber zuzuhören. Man kann auch ein bisschen variieren, das ein bisschen schneller spielen, ein bisschen fester spielen oder merken, wo kann ich eine persönliche Note mit hineinbringen. Und dass man nicht einfach denkt, ich muss möglichst einfach fehlerfrei dieses Stück spielen oder dass es dann erst wert ist, zuzuhören. Das finde ich auch so etwas. Dass man versucht, auf diesen einen Termin im Jahr hinzuarbeiten, wo man dann vorspielt und dann muss es möglichst fehlerlos klappen. Und man bewertet sich nur danach. Das ist wie die die Schüler, die den Vortrag auswendig lernen und dann auswendiggelernt herunterrattern. Oder dass er keine Seele, das lebt nicht. Und das kommt oft durch diese Orientierung, dass es vor allem darum geht, Fehler zu vermeiden und nicht etwas auszudrücken.

Kristin Thielemann: Ja, ich finde auch, es ist ganz wichtig, dass man den Schülern zeigt, Fehler gehören zum Leben dazu und niemand ist fehlerfrei, auch nicht der Lehrer! Es ist ja oft so: Wenn sie die Musikschule kommen, dann denken sie, natürlich sind sie beim Musikspezialisten, aber sie kennen das aus der Schule: Der Lehrer erkennt jeden Fehler, das heißt, der macht nie einen Fehler. Und dass sie dann die Erfahrung machen: Oh, mein Lehrer spielt mal einen falschen Ton und kann drüber lachen oder findet da einen guten Ausweg, um das irgendwie auch wieder in das Stück zu integrieren, auch wieder reinzukommen, also auch die Erfahrung hinzufallen und wieder aufzustehen und weiterzumachen. Stichwort Resilienz. Ich glaube, das ist was, wo wir mit einer guten Fehlerkultur im Unterricht auch wirklich dazu beitragen können, dass die Kinder sich wohlfühlen, dass sie relaxter sind und dass sie dann auch viel mehr von dem geben, was in ihnen steckt und nicht das auswendig gelernte, perfekt kopierte Stück von irgendwo.

Fabian Grolimund: Ja. Ich denke, das ist wichtig beim Üben, dass ich entspannt sein kann. Und wenn Kinder Angst haben vor Fehlern oder dann verkrampfen sie sich. Und dann entsteht dieses Abarbeiten des Stückes.

Kristin Thielemann: Und dann entsteht nämlich auch ganz schnell Lampenfieber. Und das finde ich jetzt ja auch wirklich kontraproduktiv. Da habe ich in dem Vorgängerheft, in dem «Voll motiviert!», da habe ich ein ganzes Kapitel zum Thema Lampenfieber geschrieben, weil mir das auch wichtig ist, dass man sich mit Kindern diesem Thema widmet. Also dass man auch Kindern oder Jugendlichen schon zeigt: Wie kann ich denn mit dem Lampenfieber umgehen? Wo kommt das überhaupt her? Und da wird dann auch das Stichwort Fehlerkultur das erste Mal thematisiert.

Fabian Grolimund: Ja, und da beim Lampenfieber finde ich aber auch wichtig, dass man das positiv deuten kann. Da es etwas ist, was einen auch aktiviert, was man und brauchen kann. Also ich denke, viele Profimusiker genießen dieses Lampenfieber. Die haben einen Weg gefunden das anzunehmen und sagen: Das aktiviert mich auf eine gute Art und Weise.

Kristin Thielemann: Das ist es! Der Unterschied zwischen Lampenfieber und Auftrittsangst. Also das Lampenfieber, das… ich genieße das, auch wenn ich weiß, ich gehe jetzt auf eine große Bühne und da sitzt das Publikum. Und ich kann diesen Saal fühlen. Ich weiß, meine Trompete ist kalt in den Händen, und ich gehe da raus… Und jetzt biete ich was. Ich genieße dieses Kribbeln auch richtig, Aber…

Fabian Grolimund: Das ist eben oft einfach eine Interpretationssache. Also wenn man die objektiven Stresswerte, Herzschlag usw. misst bei Menschen, die gerne auftreten und solche, die Auftrittsangst haben, dann sieht man da gar nicht so Unterschiede. Aber man sieht die Unterschiede, wie sie das interpretieren. Also wie du sagst: Ich gehe dann raus, ich hab Herzklopfen und ich denke, ich spüre jetzt diesen Saal und jetzt kommt diese Aufgeregtheit, oder? Und die Menschen, die Angst haben, die spüren das Herz und denken Oh Gott, mein Herz schlägt wie verrückt. Jetzt kommt das wieder. Jetzt kann ich dann sicher nicht mehr spielen, oder? Also die interpretieren das quasi als ja als sich anbahnende Katastrophe und versuchen dann keine Angst zu haben. Und das ist das Problem. Oder wenn ich denke, es geht vor allem darum, dass ich keine Nervosität spüre, dann kann ich nur verlieren.

Kristin Thielemann: Das ist es. Das hast du ganz toll zusammengefasst. Und ich finde es aber auch wichtig, dass man das den Schülern bewusst macht und auch so Strategien gibt, wie du mit Auftrittsängsten, wenn sie dann mal da sind, auch umgehen kannst. Stichwort Vorbereitung. Ich meine, wenn ich mich unvorbereitet vor eine Gruppe stelle oder vor ein Publikum, dann kann ich eigentlich nur verlieren. Es sei denn, ich bin wirklich obertalentiert und kann das alles aus dem Hut zaubern. Aber in der Regel ist es ja ganz klug, wenn man sich vor eine Gruppe stellt und da auch wirklich was zu sagen hat, irgendwas vorbereitet hat.

Als ich mein allererstes Vorspiel für ein größeres Jugendorchester gemacht habe, das war damals fürs Hamburger Jugendorchester, da habe ich vorgespielt und da habe ich vorher schon einige Musiker gefragt, die bei uns so im näheren Umfeld gewohnt haben. Und da hat mir einer was ganz Kluges gesagt: Ach, du musst, du musst machen, dass du vorher gelacht hast. Jetzt nimmst du dir einfach mal ein paar Comics mit und dann setzt du dich da in den Warteraum und bis du da aufgerufen wirst du, musst du mindestens zehn Minuten gelacht haben und Comics gelesen haben. Und es war so wirklich der hilfreichste Tipp, den man, dem man einem jungen Menschen in meinem Alter damals geben konnte.

Fabian Grolimund: Ja, ja, und ich finde immer noch wichtig, wie man sich das Publikum vorstellt. Ja, das finde ich so wichtig. Also da merke ich oft Unterschiede. Wenn, wenn jemand wenig Auftrittsangst hat, dann ist es oft so, dass man sich denkt: Ja, das Publikum, das ist ja, das will etwas hören, das will einen schönen Abend haben und ich biete meine Musik an, zum Beispiel. Oder bei mir war das jetzt ein Vortrag. Ich möchte Ihnen etwas mitgeben, was Ihnen nützt, was Sie inspiriert, oder bei der Musik, was Ihnen gefällt. Und Menschen mit Auftrittsangst, Die stellen sich das Publikum oft feindselig abwartend vor, oder? Also die warten nur darauf, dass ich Fehler mache, und dann denken sie schlecht über mich. Was ist, wenn die sehen, dass ich rot werde? Was ist, wenn ich einen Fehler mache? Die werden mich auslachen. Dass man das Publikum so als eine feindselige Masse sieht, die nur darauf wartet, dass man etwas falsch macht. Und das ist auch etwas, finde ich, was durch eine schlechte Fehlerkultur halt sehr gefördert wird. Oder dass man eigentlich nicht denkt, dass der andere etwas mit mir in einem Austausch ist, der bei der Musik ja auch stattfindet. Sondern der andere ist vor allem derjenige, der mich bewertet und mehr die Fehler rote streicht.

Kristin Thielemann; Oje. Nee, nee, das kann auf gar keinen Fall das soll auf gar keinen Fall so sein. Deswegen finde ich es auch ganz hilfreich. Ich hatte ja vorhin das Stichwort mal Musikklasse genannt, weil die allermeisten von uns Musikpädagogen haben immer so Einzelschüler. Das geht so wie ein kleines Mosaik. Da hast du deinen Nachmittag und alle halbe Stunde, alle Dreiviertelstunde geht die Tür auf, Schülerwechsel, Zack. Und wenn du es aber schaffst, dass du aus all diesen Einzelschülern aber irgendwie eine Gruppe zusammenfügst mit gewissen Aktionen, und sei es nur, dass du vielleicht einmal pro Quartal gemeinsam ein Konzert besuchst. Und im nächsten Quartal erstellst du vielleicht mit allen Schülern gemeinsam ein Konzert, wo sie auch gefordert sind, was gemeinsam zu machen. Ich meine, einfachste Möglichkeit ist ja einfach: Du lässt einen ein Videofilm abspielen, irgendwie einen ganz kurzen «Tom & Jerry» Clip oder so ohne Ton und alle improvisieren frei dazu, also machen diese Geräusche zusammen. Das hast du ganz leicht geprobt. So was Musst einfach nur Stecker ziehen für einen Ton oder du killst dir den Ton anderweitig. Vorher bestellst du die Schüler kurz vor diesem Konzert und probierst es mit denen mal aus. Natürlich leite ich, leite ich das im Unterricht so ein bisschen ein, dass ich also ich probiere es praktisch vorher im Unterricht ein paarmal aus, dass sie auch wirklich das gewöhnt sind, zu irgendwelchen Bildern, Wimmelbildern zum Beispiel zu improvisieren, mache ich gerne. Oder auch zu kurzen Videoclips. Dann wird das auch musikalisch was Wertvolles. Und dann ist das auch eine schöne Sache. Und als letzten Kniff mache ich dann meistens im Konzert, dass meine Schüler sich dann auf den Bühnenrand setzen dürfen, während das Publikum dann applaudiert. Und dann gibt es eine Zugabe und die macht dann das Publikum. Also das Publikum kriegt den Film gezeigt stellt es diesen Film mit Geräuschen dann musikalisch nach.

Fabian Grolimund: Super. Also ich finde auch, dass das etwas ganz Tolles, das Improvisieren lernen oder dass ich mich ein bisschen lerne, darauf zu verlassen. Da ist etwas da, nicht nur, wenn ich etwas auswendig gelernt habe, oder? Dann kann du ganz anders vertrauen.

Kristin Thielemann: Und dann kannst du natürlich noch mit vielen, vielen anderen Aktionen versuchen, aus diesen Einzelschülern irgendwie eine Klasse zu machen, indem du dann wirklich auch mal temporär vielleicht Gruppenunterricht machst. Und klar - da braucht man immer ein bisschen Glück - vielleicht auch mit dem Stundenplan. Die Kinder haben ja oft nachmittags sehr viel vor, so dass man sagt: Oh, da passen vielleicht zwei oder drei zusammen. Die nehme ich mal eine Weile als kleine Gruppe und da kann man ja als Musikpädagoge doch viel machen, wenn man da bereit ist, auch mal kreativ hinzuschauen, was sich so aus dem Stundenplan bauen lässt. Aber für alles gibt es eben kein Patentrezept. Und wenn du dann so eine Gruppe hast, dann fühlen die Schüler sich auch richtig wohl. Dann geht da auch einer nach vorne und spielt was und weiß: Ich habe den Rückhalt der Gruppe. Ich muss nicht nervös sein, wenn ich denen was vorspiele. Weil die freuen sich, wenn es toll klingt. Die lieben dieses Stück was ich spiele und es wird einfach toll, wenn ich da jetzt hingehe. Ich. Ich mache ihnen riesengroße Freude, wenn ich das spiele.

Fabian Grolimund: Wunderbar.

Kristin Thielemann: Das ist jetzt vielleicht ein bisschen harter Break, aber ich wollte an dieser Stelle unbedingt auf das Buch «Lotte, du träumst schon wieder» noch eingehen, denn das hast du kürzlich herausgebracht. Und da geht es um die Lotte. Und das ist so ein verträumtes Mädchen. Ist es ein Hasenmädchen oder.

Fabian Grolimund: Genau, ein Hasenmädchen, ja.

Kristin Thielemann: Weil, es gibt ja auch immer die ganz, ganz ruhigen Kinder. Und wie geht man denn mit solchen ganz ruhigen Kindern um? Darum geht es eben in dem Buch «Lotte, träumst du schon wieder?» Magst du mal was darüber erzählen, Fabian?

Fabian Grolimund: Ja. «Lotte, träumst du schon wieder?» Ist so ein Buch wirklich für Träumerkinder. Und Lotte hat diese typischen Probleme, die diese Kinder immer haben: Dass sie zu langsam sind für unsere schnelle Welt, dass sie morgens trödeln oder dass sie nicht, wie die Eltern oft sagen, in die Gänge kommen. Dass sie bei den Hausaufgaben stundenlang davorsitzen, dass sie im Unterricht sich wegträumen und dann zu Hause nacharbeiten müssen, dass sie alles verlieren und vergessen, weil sie mit dem Kopf woanders sind. Und ja, das ist auch so ein Bezug. Ich war selber sehr stark so, ich bin es immer noch. Ich wurde noch ein Jahr später eingeschult, weil das relativ ausgeprägt war. Das hat mir sehr gutgetan. Ja, und es geht in diesem Buch darum, eigentlich auf der einen Seite Strategien zu erwerben. Also die Lotte, die trifft dann im verlassenen Wald auf eine einsame Wölfin, die ihr den Wolfsblick beibringt. Also: Wie kann man sich bewusst fokussieren? Und diese Wölfin, die sagt aber auch eben, dass dieses Träumen können, dass das auch eine Fähigkeit ist, dass das etwas Wertvolles ist, das sie behalten soll. Dass sie auch ein Stück weit kultivieren kann. Wenn man das bewusst einsetzen kann, dann ist es auch hilfreich, weil wir damit andere Probleme lösen können, weil das uns auch ein Stück weit kreativ macht. Und im Buch geht es einerseits dann natürlich um die Kinder. Also wie können sie mit dieser Verträumtheit umgehen? Was können Sie dort dazulernen, damit sie die schönen Aspekte daran mehr genießen können und ihnen das andere weniger in den Weg kommt. Es geht aber vor allem auch darum, dass die Eltern und die Lehrkräfte sich besser einfühlen können in diese Kinder und merken, wie schwierig es ist, wenn man ständig die gleiche Kritik bekommt: «Wo bist du schon wieder? Jetzt hör mal zu! Du musst dich halt besser konzentrieren!» Also auch diese Anweisungen, die die Kinder gar nicht umsetzen können. Wir sollten das gehen, wenn uns jemand sagt: Ja, du musst dich besser konzentrieren, du musst weniger träumen! Und Lotte sagt das dann auch zu ihrer Lehrerin: «Alle sagen das und niemand sagt mir, wie das geht, oder!» Diese Hilflosigkeit der Kinder, dann auch irgendwie zu spüren und zu merken, die brauchen nicht immer wieder Kritik, die brauchen eigentlich jemand, der sie so annimmt wie sie sind und da und dort sie an die Hand nimmt und mit ihnen schaut: Wie kann man denn gewisse Kompetenzen und Wissen aufbauen?

Kristin Thielemann: Ja, ich finde es da auch ganz hilfreich, weil wir Musiklehrpersonen, wir sind ja häufig im Einzelunterricht unterwegs. Und da hast du natürlich wirklich einen ganzen Zeitraum, wo du zwar dein Instrument vermittelst, aber wo du auch sehr individuell auf das Kind eingehen kannst. Und dann im Kind zu vermitteln: Du bist willkommen, ganz genau so, wie du hier bist. Ob du so lustig durch die Gegend hüpfender kleiner Silvesterkracher bist oder ob du eben das ruhige, verträumte Mädchen bist oder der… na ja, gut… Hallo Klischee! Ob du die ruhige, verträumte Lotte bist, oder wer auch immer. Ja, ich meine, das kann ja auch der Hans-guck-in-die-Luft sein. Ich finde es einfach wichtig, dass die Schüler merken: Genau so wie du bist, bist du hier richtig und wir machen gemeinsam ganz, ganz schöne Musik. Aber jetzt weiß ich ja, dass hier bei dem Podcast sehr, sehr viele kluge und kreative Menschen zuhören. Und jetzt kam mir gerade so beim Erzählen, also als du das erzählt hast, kam mir gerade die Idee, dass dieses Thema Lotte, dieser Stoff «Lotte, träumst du schon wieder?» das wäre ja eigentlich prädestiniert für ein kleines Musical. So etwas einmal zu vertonen. Und ja, es gibt ja, es gibt diverse Musicals, die sehr, sehr klein und auch kurz sind, die sich gut eignen, vielleicht auch mal mit einer Klasse aufzuführen. Also wenn ich jetzt irgendjemand mit dieser Idee dazu gebracht habe zu sagen: Ich muss mal zu «Lotte, träumst du schon wieder?»… das könnte ich mir gut vorstellen… dazu muss ich was schreiben, dann kann er ja Kontakt mit dir aufnehmen.

Fabian Grolimund: Gerne. Das ist eine sehr schöne Idee!

Kristin Thielemann: Denn bei uns im Podcast ist das so üblich… Das kennen jetzt auch schon viele: Wenn man in die Shownotes guckt, dann sieht man dort alles, worüber wir auch gesprochen haben. Und es gibt auch den Link zu dir und deiner Emailadresse, wenn das da reindarf. Und zu deiner Akademie für Lerncoaching. Vielleicht so als Abschluss. Noch ein Tipp von dir, wie Schüler ihre Selbstmotivation entdecken oder auch nutzen könnten.

Fabian Grolimund: Ja, ich denke, das geht wirklich so über die Freude an der Musik. Das finde ich ganz wichtig, dass man die Musik gerne hört, dass man eine Beziehung aufbaut zu seinem Instrument. Das hat ganz viel damit zu tun, wie die Menschen drumherum auf das Instrument und einen selber reagieren, wenn man es spielt. Und ich denke, dann gibt es so die eine Gruppe der Schüler, die dann wirklich sich anfängt, selber Ziele zu setzen. Und die entwickeln dann auch sehr viel Disziplin. Ich glaube, das passiert. Ich habe jetzt mal ein bisschen genauer gelesen. Das passiert oft so um das Alter zwölf, 13 herum, also wo die Kinder so in die Pubertät kommen. Und dann gibt es die Schüler, die Kinder, die verlieren so ein bisschen das Interesse, also denen wird es schwerer fallen, sich dann zu motivieren. Und es gibt die, bei denen dann wirklich diese eigenen Ziele entstehen: Ich will dieses Instrument beherrschen, ich will darin gut werden und dann entwickelt sich auch die nötige Selbstdisziplin, um wirklich sich reinzuknien und zu üben. Und das hat sicher auch etwas mit der Persönlichkeit zu tun des Kindes, aber auch mit den Erfahrungen, die es vorher gemacht hat, mit diesem Instrument. Und ich fand das ganz wunderbar, was ich alles von dir gehört habe mit der Trompete im Wald, mit dem Beethoven hören, gemeinsam mit dem Improvisieren, eine Gemeinschaft sein die Musik macht. Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt, dass es nicht etwas bleibt, was so im stillen Kämmerlein ist, sondern dass man eben gemeinsam sich über Musik ausdrücken, kommunizieren kann. Dann wird das auch so ins Leben integriert und ist nicht etwas, was man eben dann «Geht jetzt noch hoch in dein Zimmer und übt eine halbe Stunde!» Ich glaube, das sind die Sachen, die es dann wirklich ausmachen mit der Zeit.