Voll motiviert – Der Musikpädagogik-Podcast

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#39 Reinhold Friedrich: Begabung fördern – Talent entfalten

Reinhold Friedrich: Ein großes Projekt zu machen, wo alle beteiligt sind, wo sich alle wichtig fühlen und wo jeder spürt: Ohne mich geht es nicht! Ich bin zwar nur ein kleines Rädchen, aber ich bin genauso wie der und der ein kleines Rädchen und zusammen sind wir ein Superding!

Intro: «Voll motiviert» – der Musikpädagogik-Podcast von Schott Music, dem Verband deutscher Musikschulen und Kristin Thielemann.

Kristin Thielemann: Begabungsförderung und Talententfaltung – darum geht es in der heutigen Folge von «Voll motiviert» mit meinem Gast, dem Trompetensolisten, Hochschulprofessor und Preisträger des ARD-Musikwettbewerbs Reinhold Friedrich, der schon zahlreichen Studierenden zu einer erfolgreichen Karriere verhelfen konnte. Im vergangenen Sommer war Reinhold Friedrich wieder einmal in dem von Claudio Abbado gegründeten Lucerne Festival Orchester zu erleben und mit «Oh Mensch, gib acht!» hat er gerade wieder eine neue CD mit Musik für Trompete und Orgel veröffentlicht. Hallo, lieber Reinhold, ganz, ganz herzlichen Dank, dass du dir die Zeit für «Voll motiviert» nimmst.

Reinhold Friedrich: Gerne.

Kristin Thielemann: Zur Entfaltung unseres Talents gehört ja in erster Linie die Motivation. Und diese Motivation wird meist durch etwas ganz Bestimmtes geweckt. Wie war das bei dir, Reinhold? Kannst du dich noch an diese Initialzündung erinnern? Den Moment, wo du wusstest: Trompete spielen, das will ich auch!

Reinhold Friedrich: Das war eine Begegnung mit dem zweiten Brandenburgischen Konzert als siebenjähriges Kind, das ich gehört habe, nach dem Spielen mit meinem Freund. Und von dem, ich würde sagen Licht, das von diesem Stück ausgeht, weil ich so gebannt, dass ich irgendwie in dem Moment wusste, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Als 7-Jähriger hat man natürlich keine Idee von dem, von dem Leben an sich. Aber ich wusste genau: Das will ich machen. Ich möchte das Stück spielen.

Kristin Thielemann: Zweites Brandenburgisches ist einfach phänomenale Musik. Und es hat ja auch geklappt. Du hast es ja schon wirklich echt häufig gespielt in deinem Leben, das Stück. Aber hattest du denn ein musikalisches Umfeld daheim oder wie bist du als 7-Jähriger dazu gekommen, diese Musik zu hören?

Reinhold Friedrich: Das hat natürlich schon die Vorgeschichte, dass mein Papa ein absoluter Bach-Nerd war. Und ich habe als Kind, ohne dass ich das irgendwie reflektieren konnte, weil ich war ja viel zu klein, ich habe immer Bach gehört. Sonntagmorgens lief immer die Kaffeekantate, das war obligatorisch. «Hat man nicht mit seinen Kindern hunderttausend Hudelei». Das war sozusagen zum Frühstücksei gab es das, Während mein Papa das Ei gegessen hat, haben wir die Eierschalen gegessen, damit wir bessere Knochen bekommen. Wegen dem Kalzium. Ähm, ich glaube, da hat er sich ein bisschen vergriffen, aber naja.

Kristin Thielemann: Und dann gab es Trompetenunterricht für dich. Ein ganz großer Motivationsfaktor für viele Menschen ist ja das Musizieren mit anderen. Hast du als Kind denn auch schon irgendwo im Ensemble mitgespielt?

Reinhold Friedrich: Im Posaunenchor. Und hatte irgendwie den Drang, immer oben zu landen, auf der ersten Stimme. Und das war mein Ding! Und ich habe mich einfach auf diese Überstimmen gestürzt und habe dann gedacht: Naja, wenn das bei den Bachchorälen geht mit Überstimmen, dann muss es doch bei anderen Chorälen auch gehen. Und habe dann im Prinzip auch immer so improvisiert, die Oberstimmen. Woraufhin der Dirigent – das war der Hauptfeind meines Vaters –, der hat immer mich zurückgepfiffen und war furchtbar wütend, weil sein Sohn, drei Jahre älter als ich, diese Überstimmen nicht spielen konnte. Und dann gab es ein besagtes erstes Konzert, wo ich mich erinnern kann in meinem Leben. Da hatte ich gerade mal vielleicht ein oder ein, höchstens ein, zwei Jahre Trompetenunterricht. Da sollte «Wachet auf! Ruft uns die Stimme» das Bach-Choralvorspiel kommen. (singt) Und wir sollten das spielen. Mein Freund und ich. Mein Freund war drei Jahre älter, der war also dann schon 15, ich war zwölf. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich diese Geigenstimme spiele.

Kristin Thielemann: Natürlich!

Reinhold Friedrich: Die natürlich viel schwerer war und er den Choral. Und jetzt ist folgendes Schreckliches passiert: Er ist im Choral komplett abgestürzt, weil er so nervös war, dass er das mit dem Zählen nicht hingekriegt hat. Und ich habe aber ganz tapfer von Anfang bis zum Ende meine Geigenstimme durchgehauen und bin hinten auch angekommen. Und ab dem Tag war so ein bisschen die Freundschaft belastet. Aber ich habe irgendwie diese hohen Töne immer gemocht.

Kristin Thielemann: Weißt du noch, was genau dich so fasziniert hat an diesen hohen Tönen?

Reinhold Friedrich: Das war… Das hat mich einfach angetörnt!

Kristin Thielemann: Angetörnt. Ja, hallo. Herausforderung. Hallo. Hohe Töne. Und wie ging es dann weiter mit deinem Lernweg mit Trompete und Schule? Hat die Schule gut mitgespielt, wenn es um deine Förderung ging?

Reinhold Friedrich: Dann habe ich meinen ersten Trompetenunterricht gekriegt, mit elf, zwölf beim Professor Heinz Burum in Stuttgart. «Das Geheimnis des richtigen Ansatzes».

Kristin Thielemann: Kennt man auch heute noch das Buch. Ich stelle es mal in die Shownotes.

Reinhold Friedrich: Und dann hatte ich ganz, ganz furchtbar schlechte Noten in der Schule. Ich war ein entsetzlicher Schüler. Ich war einer, den man keinem Lehrer wünscht, dass er in der Klasse ist. So ein richtiger Tunichtgut, der nur Blödsinn im Hirn hatte.

Kristin Thielemann: Oh oh.

Reinhold Friedrich: Ich könnte auch das noch drastischer ausschmücken. Also ich war in der Schule denkbar schlecht, bin dann auch von zwei Schulen geflogen und dann bin ich gelandet in einem neuen Gymnasium mit dem neuen Musik-Hauptfachzug. Wir hatten dann einen sensationellen Musiklehrer und der hat mich gefördert. Und dass ich immer wieder in meinem Leben Leute gefunden habe, die mich gesehen haben oder die mich erkannt haben oder die gesehen haben, dass ich irgendwas kann. Das hat mich geprägt.

Kristin Thielemann: Mentoren zu finden, auf jemand zu treffen, der was in uns sieht, der uns fördert, uns begleitet und der vielleicht auch die eine oder andere Tür für uns öffnet.

Reinhold Friedrich: Das ist das Wichtigste, dass du Leute hast, die dich sehen, die dich mit deinem Talent irgendwie erkennen und dann sagen: Hey, mach mal das, mach mal das. Und so wird langsam ein starker Baum aus dem kleinen Pflänzlein, was es am Anfang war.

Kristin Thielemann: Und wer waren diese Mentoren, diese ganz besonders wichtigen Menschen für dich, in deiner Karriere?

Reinhold Friedrich: Es war erst mal der Paul Wehrle, mein Musiklehrer. Dann später war es der Ed, der Edward H. Tarr, der Trompetenlehrer von mir. Dann, noch ein bisschen später, war es der Claudio Abbado.

Kristin Thielemann: Wow, beeindruckend!

Reinhold Friedrich: Auch noch jemand, den ich in der Reihe unbedingt drin haben will, ist der Lutz Köhler, der Dirigierprof von der UdK in Berlin und der war vorher Fagottist und der war der Cheftrainer von den Jugendorchestern, also Landes-, Bundes-, Europäisches Jugendorchester.

Kristin Thielemann: Cheftrainer. Das schließt ja nahtlos an an die Folge 32 mit Uli Menke. Der mochte den Begriff «trainieren» statt «üben» auch immer so gern. Und jetzt bist du ja heute als Top-Solist auf den Bühnen der Welt gefragt und seit langer Zeit selbst Professor für Trompete an mehreren Hochschulen im In- und Ausland, selbst auch Mentor für junge Menschen geworden. Was ist dir da das Wichtigste, was du den jungen Menschen mitgeben möchtest?

Reinhold Friedrich: Ich habe diesen manchmal nicht ganz einfachen Weg, den habe ich immer im Kopf. Und ich weiß, dass die jungen Leute, dass das Wichtigste, was sie brauchen, ist, dass sie jemand haben, der das schätzt, was sie machen.

Kristin Thielemann: Wertschätzung. Ihr habt sie ja wahrscheinlich alle gehört, die Folge 37 – mein Solo zum Thema Lob. Aber so ein Lernweg, ganz gleich ob in der Musikschule oder im Studium ist ja nicht immer nur ein Erfolg, der sich an den nächsten reiht, sondern es gibt ja auch ganz oft Rückschläge oder Motivationstiefs. Wie können wir als Mentorinnen und Mentoren, als Lehrkräfte den jungen Menschen helfen? Wie machst du das, Reinhold?

Reinhold Friedrich: Ich meine, wir haben ja alle unsere, auch unser großes Paket an negativen Erfahrungen. Wir haben alle irgendwann mal das Konzert, wo es furchtbar schief gegangen ist oder wo wir vielleicht uns verrennen und mit dem Problem nicht weiterkommen. Rein technisch oder auch sonst. Und dann gibt es einen Menschen, der dich sieht und der dein Talent erkennt und der vielleicht dieses Problem, was da ist, einfach auf der Seite lässt und sagt: Du, lass mal das Problem Problem sein. Jetzt gucken wir mal was, was kannst denn du. Und ich erwische immer Momente, wo ich dann nach einer gewissen Zeit sage: Du, weißt du noch, da war ein Problem. Guck mal, wie klein das jetzt geworden ist. Das ist gar nicht mehr wichtig, weil wir haben jetzt an den Sachen, die du kannst und die weiterentwickelt und dann was daran gebaut und so dann diese Möglichkeiten verstärkt und die Straße breiter gemacht.

Kristin Thielemann: Das erinnert mich jetzt gerade an einen ganz genialen Beitrag aus der «üben & musizieren» 4/23. Das habe ich auch kürzlich mit meinen Studierenden von der Hochschule Luzern gelesen und lange drüber diskutiert. Der hieß «Übe, was dir gelingt. Wie das richtige Feedback Lernprozesse beschleunigt» und war von Sophie Klaus. Wir können das ja mal in den Shownotes verlinken. Sophie Klaus ist eine Cellistin und Musikwissenschaftlerin, die im Auslandssemester in Stockholm irgendein Spielproblem auf ihrem Cello lösen wollte. Und wo es aber zu dieser Zeit ein Experiment des Lehrers dort war, dass die gesamte Klasse immer nur die Dinge, die auch wirklich gut gelungen waren, feedbacken durfte und – so ich das noch richtig weiß – war sie erst so ein bisschen angeödet, weil ja an ihrem Problem, was sie unbedingt lösen wollte, gar nicht gearbeitet wurde. Und dann stand sie auch so zeitlich ein bisschen unter Strom, weil sie es ja eilig hatte, was dazuzulernen. Sie wollte ja auch ihre Zeit nutzen. Dann gab es aber irgendwann so ein Aha-Erlebnis für sie, dass sich durch den Fokus auf ihre Stärken plötzlich ihr Problem ganz stark verkleinert hatte. Und irgendwann hat dann einer ihrer Kommilitonen gesagt, dass ihm genau das gefiel, was sie früher von sich glaubte nicht so gut zu können. Und schwupps, weg war ihr Problem. Es hat mich echt beeindruckt. Und ja, ich mache das ohnehin phasenweise immer wieder mit meinen Musikschülerinnen und -schülern. Sag mir mal drei Dinge, die dir jetzt richtig gut gelungen sind bei dem, was du mir gerade vorgespielt hast. Es ist beeindruckend, was passiert, wenn man die Stärken stärkt. – Aber du hattest ja neulich mal von diesem Trompeter erzählt, der so ein echtes spieltechnisches Problem hatte, nämlich einen Atemstopp. Das ist, dass Leute insbesondere so in Stresssituationen nicht mehr richtig anfangen können zu spielen. Namen nennen wir jetzt nicht, aber es war ein Preisträger internationaler Wettbewerbe, stand schon mit Maurice André auf der Bühne und dann kam der zu dir mit diesem wirklich gravierenden Problem in den Unterricht. Reicht es denn da auch noch, die Stärken zu stärken? Oder wie geht man denn an so eine Aufgabe ran? Wie bist du rangegangen an diese Aufgabe?

Reinhold Friedrich: Gedacht? Hoppla, jetzt, jetzt geht's los. Jetzt hast du echt ein Problem an der Backe.

Kristin Thielemann: Was macht man dann?

Reinhold Friedrich: Und dann versucht mit ihm alle möglichen Sachen zu finden, damit er einen Weg für sich findet, wie er das anders anpacken kann. Und ich habe mit ihm das Ziel erklärt. In drei Jahren spielst du zweites Brandenburgisches Konzert. Das ist mein Wunsch. So, ich denke mal, wenn wir da ankommen, dann können wir sagen, wir haben was geschafft und dann geht dein Leben anders weiter. Weil dann sitzen wir nicht auf dem Problem, sondern dann sitzen wir darauf, dass wir ein Ziel haben.

Kristin Thielemann: Okay, also Ziel sehr klar definieren und gemeinsam einen Weg finden. Wie sah der Weg bei euch aus?

Reinhold Friedrich: Dann ist man als Lehrer wirklich gefordert, weil das ist ja eine harte Nuss, sonst Stopp! Wir haben Bewegungstraining gemacht, natürlich auch Meditation. Wo wir wirklich die Nuss geknackt haben, war Tai-Chi. Langsam rückwärts laufen im Kreis und dabei Tonanfänge. Das ganze Problem hat sich in Luft aufgelöst.

Kristin Thielemann: Und was vermutest du, warum genau das funktioniert hat?

Reinhold Friedrich: Ist ja klar, weil ein Teil deines Gehirns ist wahnsinnig damit beschäftigt, barfuß auf einem Teppich rückwärts einen Kreis zu beschreiben, du möchtest da nicht anstoßen, wenn du Trompete spielst, da macht anstoßen nicht so richtig Spaß. Und deswegen musst du ja immer gucken, dass du auf der Spur bleibst. Und das kostet unglaublich viel Konzentration. Und plötzlich ist dieser Vorgang zu blasen und Luft zu geben und das Instrument in Schwingung zu versetzen, ist das Kleinste von allen Problemen. Alle anderen Dinge sind wesentlich schwieriger. Und das hat dann diese Sache sehr beflügelt. Und eine weitere Sache, wo wir die Nuss knacken konnten, war, dass wir Töne nicht mehr mit dem Zeitpunkt versehen haben, sondern auf einer offenen Zeitachse.

Kristin Thielemann: Zeitachse. Wie muss ich mir das vorstellen?

Reinhold Friedrich: Also, dass der Ton da kommt, wo er kommen will. Und dass es nicht wie beim Dirigenten diesen harten Einsatz gibt, sondern was ich wahnsinnig intelligent finde, ist der Nikolaus Harnoncourt, der ja nun ein bescheuert schlechter Dirigent war. Aber er war ein wahnsinnig toller Musiker und er hatte ein ganz hohes empathisches Gefühl für das: Wie macht man was zusammen, ohne dass man es diktatorisch zusammenzwingt? Und dann hat er immer so eine Bewegung draufgehabt und einen Halbkreis von außen nach innen. Und das war die Bewegung, die wichtig war und nicht das, wie viele Dirigenten, das Stehenbleiben irgendwo mit dem auf die Plätze, fertig, los! Und dieser Runterschlag. Und er hat dadurch ganz oft sehr, sehr schöne Anfänge, die aber nicht erzwungen waren, sondern die frei kommen. Das hat mich auch inspiriert, dieses aus der Bewegung raus das zu machen und das Zeitfenster eben ein Stück weit offen zu lassen.

Kristin Thielemann: Ein intensiver Weg, den ihr da miteinander gegangen seid und ganz sicher ein hartes Stück Arbeit.

Reinhold Friedrich: Und es war zum Schluss von Erfolg gekrönt.

Kristin Thielemann: So muss das sein. Dann seid ihr am Ende beide daran gewachsen.

Reinhold Friedrich: Ja. Also um noch mal zurückzukommen zu deiner Frage: Wie gehst du mit den jungen Menschen um, wie packst du sie an? Und ich denke mal, mein wichtigster Moment ist der, das zu erkennen, was derjenige hat. Alle Schalen wegzunehmen und so den innersten Diamanten in jemandem zu finden.

Kristin Thielemann: Nicht umsonst heißt es ja auch «ent-wickeln», denn manchmal ist es ja gar nicht das Reinfüllen von neuen Dingen in jemanden, sondern Hilfestellung zu geben, dass das entdeckt werden kann, was eigentlich schon längst in diesem Mensch drin ist und nur ausgewickelt werden will, was einfach nur raus will.

Reinhold Friedrich: Genau, zu entwickeln. Und da gibt es immer einen Diamant, den muss man halt nur suchen.

Kristin Thielemann: Für wie wichtig in diesem Entwicklungsprozess hältst du denn Musikwettbewerbe, also für die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel «Jugend musiziert», für die Studierenden etwa den «Deutschen Musikwettbewerb», oder gerade sitzen wir beide in München und hören gleich das Finale des August Everding Wettbewerbs für Trompete, wo du in der Jury bist. Wie wichtig sind diese Musikwettbewerbe?

Reinhold Friedrich: Sehr wichtig, weil ich meine, Wettbewerb ist ja nicht irgendeine Sache, sondern alles ist Wettbewerb. Also ich meine, ob der Wettbewerb jetzt der ARD-Wettbewerb ist oder «Jugend musiziert» oder der Wettbewerb im Klassenzimmer, wo zehn Leute in einer Klasse sind, oder jetzt im Moment sind es gerade 20, und dann müssen sie nach vorne und sind natürlich wahnsinnig nervös, weil sie alle denken: Oh Gott, oh Gott, ich bin so schlecht, alle anderen sind so gut! Und dann… manche können gar nicht spielen, weil sie so zittern. So, und jetzt machen wir das jede Woche und nach einem Jahr gehen die nach vorne, als würden sie nach vorne gehen, um ein Glas Volvic zu trinken.

Kristin Thielemann: Und ich glaube, in diesem Jahr, so wie du das beschreibst, entsteht natürlich auch einiges an Miteinander. Das Gefühl, nicht gegen die anderen zu musizieren, sondern miteinander einer gemeinsamen Sache, ja, vielleicht könnte man sogar sagen zu dienen in Anführungszeichen, nämlich dienen der Musik. Und wenn man dann das Gefühl hat, nicht der Einzige zu sein, der da gegen alle spielt, sondern wenn man für die anderen spielt: Wenn sich da so ein Gemeinschaftsgefühl, wenn sich Unterstützung, wenn sich Freundschaften entwickeln, dann kann aus so einem Zittern eine Auftrittsangst auch wieder was Positives werden. Nämlich das Hinfiebern, das sich Freuen auf einen Auftritt, das positive Lampenfieber, was einen auf der Bühne beflügelt. Und ja, ich bin sicher, dass dieser Musik-Klassengedanke, diese Zusammengehörigkeit, Verbundenheit auch in Musikschulen sehr viel Positives für die Schülerinnen und Schüler vollbringen kann, wenn wir als Lehrkräfte dann eine Lösung finden, solche Möglichkeiten auch zu schaffen. Denn wenn es nur ein Konzert gibt, was zum Ende des Musikschuljahres läuft, dann bekommt das oft so einen Hyperfokus. So die einzige Chance zu sein, kann auch schnell mal als negativ oder auch als belastend empfunden werden. Aber wenn es in irgendeiner Form eine gewohntere Situation ist, wenn man da seine Freunde aus der Klasse sieht, mit ihnen mitfiebert vielleicht sogar gemeinsam mit ihnen etwas spielt oder jemandem zujubelt, von dem man merkt, dass er oder sie sich echt entwickelt hat in der letzten Zeit, dann kann das doch ein viel, viel stärkerer Motivationsbooster für uns alle sein.

Reinhold Friedrich: Alle Kinder messen sich doch gern mit anderen zusammen. Das ist doch der Wettbewerb, auf den Baum zu klettern oder die Sandburg zu bauen. Ich finde es ganz wichtig, dass die jungen Leute sich in Wettbewerben darstellen und miteinander im sehr positiven Sinn fighten. Also man kann das ja alles als Spiel begreifen und das Spiel ist ja auch eine Art Wettbewerb.

Kristin Thielemann: Wo du gerade das Stichwort Spiel sagst. Was Musikwettbewerbe bieten, ist ja letztlich auch das, was in vielen Computerspielen drin ist und was junge Menschen (und manchmal auch uns Erwachsene) bei diesen Games so fasziniert. Jungen Menschen muss man ja meist sehr selten sagen: «Och, bitte spiel doch nur mal für Mama so ein Stündchen an der PlayStation. Ach, jetzt komm schon, nur mal eine halbe Stunde Handygame bitte, mein Sohn, das wirst du gerade noch schaffen!» Bei Computerspielen wie bei Wettbewerben sind ja diese Gamificationelemente drin, wie zum Beispiel eine Herausforderung zu sehen, sich daran zu messen, was Besonderes erreichen zu können, ja, oder auch die Möglichkeit des Scheiterns zu haben, für einen Erfolg gefeiert zu werden oder auch mit anderen gemeinsam zu fighten, das weckt ja einfach doch bei vielen die Motivation sehr stark.

Reinhold Friedrich: Und dem Wettbewerb an sich erkenne ich erst mal nichts Böses an, sondern ausprobieren, machen, sich selber spiegeln. Ich finde, dass man Wettbewerbe immer mit sich selber macht und am besten mit seinen Freunden.

Kristin Thielemann: Wettbewerbe mit seinen Freunden zusammen machen, wenn man jetzt nicht gerade im Duo oder im Ensemble mitspielen will. Wie kann so was aussehen? Wie sah das bei dir aus, Reinhold?

Reinhold Friedrich: Also ich habe den Deutschen Musikwettbewerb gemacht, 1981. Im Jahr vorher war der ARD-Wettbewerb in München und da sind wir zusammengekommen. Ich kannte ganz viele Leute, junge Leute nicht, die in meinem Alter waren. Håkan Hardenberger war einer davon, Markus Stockhausen war ein anderer. Und dann haben wir da gespielt, und es hat irgendwie überraschend gut geklappt. Ich war total konsterniert, warum ich da auf einem vorderen Platz gelandet bin. Und dann bin ich mit Markus übereingekommen, wir sind zusammengesessen, haben zusammen uns befreundet und haben gesagt, wir machen den nächsten Wettbewerb, aber wir machen ihn nicht gegeneinander, sondern wir machen ihn zusammen. Dann ist er zu mir gekommen und wir haben mit meinem Lehrer zusammen ein bisschen mal an seinem Barockmusik-Desaster gearbeitet, weil der wusste überhaupt gar nicht, was er da machen soll. Und dann umgekehrt hat der alte Karlheinz und die Flötenlehrerin von Michael Faust, die auch im Freundeskreis der Familie war, haben wir zusammen die modernen Stücke gearbeitet.

Kristin Thielemann: Echt eine tolle Strategie gefunden mit eurer Vorbereitung. Da kommt es dann ja wahrscheinlich gar nicht mehr so stark auf den Preis an, den man da gewinnt, weil ihr selber gespürt habt, wie genial euch die gemeinsame Vorbereitung vorangebracht hat.

Reinhold Friedrich: Ja, und dann sind wir zusammen zum Wettbewerb. Der Markus und ich, wir haben einen Preis gewonnen, ich glaube Zweiter und Dritter. Und wir waren beide glücklich. Ich glaube, der erste wurde nicht vergeben. Und dann gab es zwei dritte Preise. Einen hat Joachim Bensch gekriegt, Solo-Hornist vom SDR Süddeutscher Rundfunk und die Marie-Luise Neunecker. Und der Joachim Bensch hat gesagt: «Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich nach Hause getrauen soll, weil ich bin ja Solohornist vom Funk, und ich habe nur den dritten Preis.» Und dann habe ich gesagt: «Also ich, ich habe den dritten Preis. Und ich freue mich wahnsinnig, weil ich finde, ich finde es wahnsinnig schön.» Genau das gleiche Desaster ist mir noch mal passiert beim ARD-Wettbewerb, sechs Jahre später. Da habe ich dann den zweiten Preis gewonnen, beim ARD-Wettbewerb. Der erste – da gab es ein paar Leute in der Jury, die das erfolgreich verhindert haben. Ist mir aber auch vollkommen egal, weil das Leben korrigiert alles letzten Endes. Und dann gab es zwei dritte Preise. Einer war der Agnes Urban, der Professor in Köln ist und der andere war George Vosburgh. Und George Vosburgh war Trompeter bei Chicago Symphony. «I don't know how to take this price. It’s for me, it's the biggest anger. I'm totally disappointed. How can I go back to my orchestra?» Ich habe zu ihm gesagt: «Ah, for me, it's very easy to go back to my orchestra, because we love it.»

Kristin Thielemann: Oh Reinhold, echt unbezahlbar, dein Humor. Ich liebe deine Schlagfertigkeit. Und ich glaube, man spielt ja auch freier und geht entspannter mit dem Ergebnis um, wenn man den Fokus stärker auf das legt, was man durch die Vorbereitung und das ganze Drumherum des Wettbewerbs auch für sich selbst mitnehmen kann. Und ja, man muss ja auch sagen, dass dann in Anführungszeichen nur zweiter Preis, denn Telemann-Konzert live im Fernsehen mit dem BR-Sinfonieorchester Grundstein für so vieles Gute in deinem Leben auch war. Ist halt immer die Frage, ob man frustriert nach oben schaut und sagt: Ja, eine Treppenstufe höher wäre ja auch noch gegangen. Oder: Ich habe es nur bis 200 Meter vor den Himalayagipfel geschafft. Oder ob man stattdessen sagt: Hey, ich bin einer der ganz wenigen Menschen, die den Mut hatten, dort rauf zu steigen. Und auf dem Weg dorthin habe ich so viel Tolles gesehen. Ich habe mich selbst kennen und einschätzen gelernt, habe ganz wichtige Erfahrungen für mein Leben gemacht und ich bin dadurch der Mensch geworden, der ich heute bin. Und darauf bin ich stolz.

Reinhold Friedrich: Ja, ich meine, es kommt ja immer darauf an, von welcher Seite man was betrachtet. Für den einen ist es Glück und für den anderen ist es das Unglück. Dann muss man nur die auf die richtige Seite drehen. Und es geht nicht darum, um die Eitelkeit, ob du jetzt da einen ersten und dann zweiten und da mal eine Note gekiekst hat oder was. Es geht um was ganz anderes. Und manche Leute kapieren nicht, um was es da geht.

Kristin Thielemann: Um was geht es für dich?

Reinhold Friedrich: Es geht darum, um Freude an der Musik zu vermitteln. Und wenn das nicht das Hauptziel ist, dann ist alles nichts.

Kristin Thielemann: Ja, das ist doch schön gesagt, Reinhold. Und ich glaube, das würden auch viele Leute unterschreiben. Das ist eine Einstellung, mit der kannst du es zu was bringen.

Reinhold Friedrich: Ja.

Kristin Thielemann: Aber trotz aller positiven Erlebnisse der Freundschaften, die man durch so einen Wettbewerb knüpfen kann, trotz Wertschätzung des Lernwegs, der Nicht-Hyperfokussierung auf den Preis, kann man ja einen gewissen Stress nicht ganz wegdiskutieren. Wie gehst du denn in solchen Ausnahmesituationen mit dem Stress um? Und gibt es da vielleicht irgendwas, was wir uns für unsere Musikschülerinnen und -schüler abschauen könnten?

Reinhold Friedrich: Ich habe in meinem ganzen Leben versucht, nicht der Musiker zu sein, der so auf Nummer sicher geht. Wobei natürlich ist vollkommen klar, wenn man auf dem Seil geht und niemand möchte runterfallen, wenn du von dem einen Kirchturm zum nächsten gehst. Aber es ist halt nun mal manchmal so, dass du der auf dem Seil bist und dann musst du einfach machen. Und da brauchst du ganz, ganz viele kleine positive Erfahrungen, die vorher stattgefunden haben, damit du den Lauf dann schaffst. Also ich stelle gerade mal zwei Sachen gegenüber. Der erwachsene Reinhold Friedrich wird von Claudio Abbado gefragt, ob er in Luzern mitmachen will. Ich war vollkommen überrascht und ich habe erst gedacht, dass meine Studenten wollen mich verarschen, als ich da am Telefon den Claudio hatte. Ich habe gedacht, das ist eine getürkte Nummer von meinen Studenten. Aber habe dann doch gemerkt: Oh, das ist doch… es scheint wohl was dran zu sein. Habe dann also mal ganz lieb am Telefon… Und ein Jahr danach war die Situation die: 5. (Sinfonie) von Mahler live im Fernsehen. Live in 40 oder 50 Ländern Radio, die CD und die und die DVD. Alles wurde jetzt, in dem Moment, hat es stattgefunden. Und dann geht es darum, dass du jetzt in diesem Moment bestehst. Und da geht es zum Beispiel auch wie vorhin bei dem «Beginnen-Problem», mit diesem «Stopp-Problem», mit diesem «Stopping», was manche Leute im Laufe ihres Stresses erleben, dass du da frei spielen kannst. Und eine Sache, die mir wahnsinnig geholfen hat. Der kleine 13-jährige Reinhold ist beim Klassenvorspiel im Musikgymnasium und spielt Viviani-Sonate, die erste. Das ist eigentlich für 13 Jahre auch ganz schön anstrengend, weil das Stück sieht leicht aus, aber entpuppt sich doch als ein ganz schöner Klopper. Okay, ich habe gespielt, mein Mathematiklehrer hat mich begleitet und ich habe ganz furchtbar gespielt. Also mir sind ganz viele Sachen verrutscht und ich bin nach hinten und habe geheult. Und dann kam mein Musiklehrer rein ins Zimmer und hat gesagt: «Geht zum Waschbecken, wasch dir das Gesicht ab und wir gehen noch mal raus!» Und dann hat er sich ans Klavier gesetzt und hat gesagt: «So, das ist der Reinhold, der hat gerade eben das nicht so gut gemacht, wie er kann. Er möchte jetzt zeigen, dass er es besser kann.» Uff. Und dann musste ich nochmal spielen und dann ist es mir wahnsinnig gut gelungen. Ich habe es dann, ich weiß nicht fehlerfrei, aber halt so gemacht, dass es für mich einen unglaublichen Unterschied gemacht hat. Und ich habe gemerkt: Okay, du kannst fallen, aber du musst wieder aufstehen und du musst weiter rennen. Und das ist der Punkt.

Kristin Thielemann: Der Mathelehrer am Klavier. Hmmm… also nichts gegen Mathelehrer, auch nichts gegen klavierspielende Mathelehrer. Aber warum wundert mich das jetzt nicht, dass es mit dem Mathelehrer nicht klappt, wohl aber mit dem Musiklehrer? Stichwort Korrepetition. Ich habe oft den Eindruck, dass die Korrepetition etwas ist, was einen viel, viel entscheidenderen Einfluss auf unsere Leistung auf der Bühne hat, als es uns manchmal bewusst ist. Korrepetition – das kann jemand sein, der dich mit seinem Spiel beflügelt, der aber, wenn er zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dich einfach nicht unterstützen kann aus eigenen technischen oder musikalischen Gründen. Aber so eine gute Korrepetition kann eben auch ein Joker auf der Bühne sein.

Reinhold Friedrich: Also, dass eine tolle Begleitung ist natürlich wahnsinnig wichtig und ich kriege es ja jeden Tag mit, mit meiner liebsten Frau. Was den Unterschied macht.

Kristin Thielemann: Nota bene für diejenigen, die Eriko Takezawa, also Reinholds Frau, nicht kennen. Eriko ist eine phänomenale Pianistin, und der ganz große Schwerpunkt ihrer Arbeit ist seit vielen Jahren die Kammermusik, die Korrepetition, wo sie echt schon enorm viele Wettbewerbe begleitet hat, viele CDs aufgenommen hat und einfach, ja, die Wunschbegleiterin vieler toller Musikerinnen und Musiker ist. Und wenn man mit Eriko Takezawa zusammenspielt, ja, so wie wir beide, Reinhold, im Februar ‘23, als wir die Werke meiner neuen Ausgabe «Romantic Trumpet Duos» aufgenommen haben, dann hat man aber nie das Gefühl, vom Klavier so bevormundet zu werden, sondern es ist einfach eine geniale Unterstützung. Man fühlt sich getragen, gestützt auf eine ganz, ganz angenehme und positive Weise. Und Eriko schafft es, dass ihre Musik nicht die Hintergrundbegleitung für so ein Solo ist, sondern dass sich beim Musizieren eine Interaktion ergibt, die dem Spiel dann einfach noch mal eine ganz neue Qualität gibt. Und ja, ich glaube, das darf man hier einfach mal so sagen: Eriko, deine Korrepetition ist einfach phänomenal und eine ganz, ganz große Kunst für sich.

Reinhold Friedrich: Es ist unglaublich, wie viel besser man spielt. Ich merke es ja selber, wenn ich… ich spiele ja auch mit dem und mit dem Organisten. Und wenn da jemand sitzt wie der Sebastian Küchler-Blessing, dann kannst du einfach machen, was du willst. Er fängt dich immer auf. Im freien Fall vom Kirchturm runter, dann unten hält jemand die Hand raus und sagt: Hier geht's lang. Also das ist schon enorm wichtig und macht den Unterschied.

Kristin Thielemann: Ja, da hast du natürlich vollkommen recht. Umso wichtiger, dass auch Menschen, die gerade Kinder und Jugendliche auf dem Klavier begleiten, nicht nur ihr Instrument beherrschen, sondern wirklich auch eine Ahnung von Korrepetition haben. Denn mir tut es immer leid, wenn ich so bei Wettbewerben Kinder und Jugendliche auf der Bühne sehe, die dann da so rausgeputzt sind und wo du aber den Eindruck hast, ja, die Klavierbegleitung ist irgendwie ein Dekorationselement auf der Bühne, genau wie so also ein, zwei Blumenbouquets dekorativ herumstehen. Dieses Zusammenspiel, die Interaktion, Kammermusik, dieses ja, vielleicht kannst du auch sagen musikalische Gespräch, das ist doch das, was wirklich Musik erschaffen lässt, was dir auch selbst auf der Bühne hilft, weg von dieser Leistungsshow zu kommen, wenn du wirklich Musik machst. Ja, gut, Korrepetition. Wir haben ja gerade schon fast das Stichwort Hochschulpolitik gestreift, Profiorchester und Musikschulen. Wie siehst du denn da die Zukunft, Reinhold. Jetzt haben wir an den Musikschulen ja auch bei den allgemeinbildenden Schulen in Sachen Musik echt einen Fachkräftemangel, der gerade so richtig an Fahrt aufnimmt. Vor allem, wenn man sich mal die Zahl der Menschen anschaut, die aus den Hochschulen herauskommen. Und dem gegenüber stehen aber viele Orchester, die nicht mehr wie bisher von der öffentlichen Hand unterstützt werden, werden können, weiß ich nicht, wo das die öffentliche Hand vielleicht auch nicht mehr will. Da haben wir auf jeden Fall riesengroße Finanzprobleme, aber zumindest mal eine ausreichend große Zahl Studierender in diesem Bereich. Siehst du denn die Zukunft auch so ein bisschen in die Richtung, dass man auch den Hochtalentierten im Studium sagen muss: Hey, habt doch bitte mal die Musikpädagogik mit auf dem Schirm. Vielleicht so eine Kombination auch aus Unterrichten und Konzerten. Denn erstmal kann man, wenn man es ein bisschen clever anstellt, kann man sich finanziell auch viel breiter abstützen. Und ja, wenn man Ahnung vom Unterrichten hat, hat man daran auch mindestens genauso viel Spaß wie an Konzerten. Auch das beflügelt sich ja auch irgendwie gegenseitig. Und ich finde es auch irgendwie unsere Aufgabe, unsere Verpflichtung, den Komponisten und auch den Musikerinnen und Musikern der Vergangenheit gegenüber diese Musik auch weiterzugeben, ganz aktiv an die nächste Generation weiter zu bringen. Wie siehst du das?

Reinhold Friedrich: Also jetzt ist doch der wichtigste Punkt. Ich meine, wir gehen in eine Zeit, wo es immer weniger die ganz große Schatulle Geld gibt, die alle Orchester und alles finanziert. Das heißt, da muss ein Umdenkprozess stattfinden und Musikausbildung braucht einen anderen Fokus. Wenn wir es nicht schaffen, den Fokus da umzudrehen, dann stehen wir wirklich vor einer unglaublichen Problematik. Ich habe im Gymnasium, wenn ich das noch so ein bisschen ergänzend dazu sagen kann diesen Musiklehrer gehabt, der eben schon so weit geblickt hat, dass er bei uns nicht nur Musik unterrichtet hat. Sondern dass das Fach, was einmal in der Woche kam, war Epochen der Kunstgeschichte. Und da haben wir einen großen, großen Kreisel, der von ganz außen immer weiter nach innen geht, gezogen. Und zwar mit dem Schwerpunkt Musik natürlich, aber auch mit Architektur, auch mit Politik, auch mit Geschichte, auch mit Kunstgeschichte und natürlich auch Literatur. Und das ging vom Altertum aus römisch, griechisch-römisches Altertum und hat dann bis zum Jahresende hat er es geschafft, in der Heutezeit anzukommen.

Kristin Thielemann: Innerhalb eines Jahres, in einer Stunde, in der Woche?

Reinhold Friedrich: Innerhalb eines Jahres hat er den Kreisel eben halt so gezogen, dass er ankommt zum Schluss. Nächstes Jahr hat er den Kreisel wieder gezogen, und zwar mit ein bisschen anderen Schwerpunkten, also ein bisschen feiner.

Kristin Thielemann: Ah, jetzt verstehe ich.

Reinhold Friedrich: Und es ging bis zur 13. Klasse. So, also ich weiß noch, wie ich selber in der 13. Klasse dann irgendwann mal - und da wurde auch dann den einzelnen Schülern Referate aufgegeben. Du machst das, du machst das, Du bist dafür verantwortlich. Und mein Musiklehrer hat mitgekriegt, dass ich halt Rock, Jazzrock, wahnsinnig gern mag. Und dann musste ich einen einstündigen Vortrag halten über die neuesten Entwicklungen in Jazzrock von John McLaughlin, Mahavishnu Orchestra und Carlos Santana und Frank Zappa und Chicago und Platz für den Tears und Tower of Power und so da. Das war zum Schluss, da waren wir angekommen.

Kristin Thielemann: Und den Vortrag hast du dann vor deiner Klasse gehalten. Oder vor Jüngeren?

Reinhold Friedrich: Nee, das habe ich in meiner Klasse gehalten und das hat aber mit allen Klassen, die danach kamen… also das war so sein… eines seiner Steckenpferde. Ein anderes Steckenpferd war das Musikdiktat. Jede Woche gab es Musikdiktat und das sind natürlich jetzt auch sind wir wieder bei dem Wettbewerb.

Kristin Thielemann: Musikdiktat?

Reinhold Friedrich: Musikdiktat: Er sitzt vor einem Klavier und spielt Töne. Und wir müssen aufschreiben. Danach klopft er einen Rhythmus, danach spielt er Akkorde. Danach spielt er eine Kadenz. Und das war für uns dann irgendwann mal am Anfang natürlich… Wow, ja, oh la la la. Und dann zum Schluss hat sich so rausgestellt, wir waren eine Klasse mit 15 Leuten und da waren vier, die halt recht sportlich unterwegs waren. Ich war einer davon.

Kristin Thielemann: Sportlich.

Reinhold Friedrich: Und der Wettbewerb hieß zum Schluss nach dem ersten Mal durchspielen, den Bleistift wegzulegen. Ganz offensichtlich. Also es wird parallel dazu mitgeschrieben und es wird nichts mehr korrigiert. Das war unser, unsere Sportveranstaltung.

Kristin Thielemann: Okay, cool.

Reinhold Friedrich: Und die hat natürlich auch super viel Spaß gemacht.

Kristin Thielemann: Bestimmt nicht ganz einfach, aber.

Reinhold Friedrich: Hat uns auch entsprechend gebildet und hat dazu geführt, dass als ich auf der Musikhochschule war, der Rektor der Musikhochschule genau das Gleiche gemacht hat. Und ich saß dann da und habe ihn angeguckt, nachdem er gespielt hatte und er hat gesagt: «Reinhold, wieso schreibsch ned?»

Kristin Thielemann: Super!

Reinhold Friedrich: Und ich hab gesagt: «Herr Professor Velte, ich hab scho gschriebe.» «Ja, wie? Ich habe doch aber erst einmal gespielt» Und da hab ich gesagt: «Tut mir leid, es tut mir leid.» Dann ist er mit seinem kriegsversehrten, behinderten Fuß, mit dem Stock ist er nach hinten gewankt, hat den Zettel genommen, hat es gelesen, hat gesagt: «Das stimmt ja alles!» Ich habe gesagt: «Entschuldigung!» und ja. D hat er gesagt: «Ja, Reinhold, was machsch denn du da? Fort! Geh übe! Du musch Trompet übe. Du brauchsch ned Musikdiktat mache. Das kannsch ja schon.» Und der hat mich dann ohne Prüfung… Ich hoffe, dass das nicht dem Ministerium in Stuttgart zu Ohren kommt… Er hat mich dann ohne Prüfung von was man heute Bachelor nennt, in den Masterstudiengang geschickt. Also ich habe nur einige Fächer im Bachelor abgeschlossen, die allermeisten nicht, weil er gesagt hat: Das brauchst du ja nicht, du musst jetzt arbeiten, du musst Trompete üben. Und dann: Du kannst ja die Akkorde, du kannst deine Musiktheorie, du weißt Musikgeschichte mehr als die ganzen Leute, die hier sind. Du brauchst es da jetzt nicht wiederkäuend, dich zu langweilen. Und das hat er mit ein paar Checks hat er das rausgefunden. Und dann hat er mich in den Aufbaustudiengang geschickt. Das war damals möglich. Es ist unfassbar.

Kristin Thielemann: Ist natürlich cool, aber eine mögliche Lösung wäre natürlich auch gewesen, dich zum Coach für die Jüngeren zu machen. Ich habe es auch eben schon gedacht, als du gesagt hast mit dem Referat, als du das erzählt hast von deinem Musiklehrer. Er hätte dich ja das auch vor jüngeren Schülern halten lassen können, um dir die Möglichkeit zu geben, auszuprobieren, wie schön es ist, auch anderen was beizubringen, was du schon weißt.

Reinhold Friedrich: Genau.

Kristin Thielemann: Wie machst du denn das heute eigentlich in deiner Trompetenklasse? Wie hältst du das mit dem Austausch unter den Generationen der Studierenden? Die «Newbies», die, die schon lange dabei sind und schon einiges Können die schon eine Stelle haben? Gibt es da einen Austausch? Das in Anführungszeichen «Peer Learning». Wie wichtig ist dir dieser Austausch, Reinhold?

Reinhold Friedrich: Das ist natürlich ein ganz wichtiger Faktor erstmal, dass die Älteren, die jetzt schon weiter sind, dass die sehen: Ah, da kommen die Jungen, die haben die gleichen Probleme, die wir auch hatten. Also dass man sich sozusagen gegenseitig erkennt. Und dann die Jungen, dass die halt da sind. Also ich muntere die immer auf: Hört bitte zu, seid anwesend. Es ist keine Anwesenheitspflicht, aber es ist eine Anwesenheitsaufforderung. Also ich ermutige die Leute immer, dass sie dass sie bei den Stunden zuhören, wenn einer was Besonderes spielt, wenn einer Barocktrompete spielt. Dass der Austausch von unten, wo man vielleicht noch mehr mit dem Basissachen sich beschäftigt, aber dass die dann schon die ganze Literatur hörend kennenlernen. Dieser Austausch der macht einfach stärker. Den haben wir aber auch immer wieder Stunden, wo wir in gemischten Runden, oft sind ja viele einfach nicht da, weil die der eine hat das Geschäft, der andere hat die eine Mucke. Dann hat man eine Klasse mit einem, der vielleicht im Solistenexamen ist und dann hat man einen aus dem Master, einen Bachelor und vielleicht sogar noch einen Vorschüler. Also du hast alle vier Ebenen gleichzeitig. Und dann kann es durchaus passieren, dass ich mit dem von der Solistenklasse sage: Du, was würdest du, was würdest du jetzt als nächste Übung empfehlen? Machen wir mal so ein so ein Volleyballspiel. Wir tauschen uns aus, Gucken wir mal, welche Übung jetzt die nächste sein könnte.

Kristin Thielemann: Was würdest du dir denn eigentlich von den Schülerinnen und Schülern, die von den Musikschulen zu dir ins Studium kommen, wünschen? Was sollen die für Skills mitbringen? Was für Erfahrungen sollen sie gemacht haben? Was ist wichtig für ein erfolgreiches Studium?

Reinhold Friedrich: Also ich würde mir vor allem von den Lehrern wünschen, dass sie den jungen Leuten diese Wippe zwischen Anforderungen und Ausschau auf was, was wie, wie toll kann das sein? Auf der einen Seite von den wirklich was verlangen, weil wenn man nichts verlangt, dann kommt auch nichts. Und auf der anderen Seite aber auch wirklich diese Freude zu implantieren in den Kindern, was wie wahnsinnig toll Musik sein kann. Und ich glaube an der Stelle hat man jetzt heutzutage mit Instagram und mit den ganzen Scheiße Sachen, die in Konkurrenz stehen, ein noch viel, viel härteren Job als noch vor 30, 40 Jahren ist. Noch dazu ist in den meisten Elternhäusern wird nicht mehr gesungen. Und dass der Papa jetzt einmal ein normaler Konzertgänger ist, zum Symphoniekonzert geht und dann mal irgendwann seine Kinder mitnimmt, ist ja auch mit mittlerweile eher die Ausnahme und sehr selten. Das heißt, der der Musiklehrer muss auf der einen Seite ein unglaublich süßes Zuckerbrot bereithalten, womit er die Leute anlockt und den sagt: Mensch, guck mal, was Musik kann. Und dann auf der anderen Seite braucht er natürlich auch eine Peitsche. Man braucht Zuckerbrot und Peitsche, um das Ding in Schwung zu halten. Wenn man nicht fordert, verlieren die die Kids auch irgendwann mal das Interesse, weil sie ja dann kein Erfolgserlebnis haben. Und wenn keine Erfolgserlebnisse da sind, dann hat man keine Lust mehr. Aber wenn man Pädagogen hat, die auf der einen Seite wirklich einem das Gefühl geben: Wow, da habe ich aber jetzt was geschafft. Und auf der anderen Seite ist ein Lehrer da, der wirklich eine Perspektive aufbauen kann.

Kristin Thielemann: Ja, verstehe, was du meinst.

Reinhold Friedrich: Ich hatte das Glück mit diesem Musikgymnasium und unser Musiklehrer war ein krasser Typ, viel Licht und viel Schatten. Aber er hat zum Beispiel dann irgendwann mal in mir und in unserer Klasse entwickelt, dass wir die Arbeit für ihn gemacht haben. Also die Arbeit heißt, er hat gesagt: «Reinhold, du gehst zur Druckerei, du sagst der Druckerei, ich habe dir das aufgeschrieben. Hier besprich es noch mal, das sind die Konzertplakate und das sind die Konzertkarten. Und die sollen da und da hin. Du gehst zur Druckerei, du gehst zur Kirche und oder zum Staatstheater. Du machst das und das.» Und er hat uns delegiert.

Kristin Thielemann: Ich ahne, wo es hingeht.

Reinhold Friedrich: Und das sehe ich mit ein Jahr, nachdem ich aus der Schule raus war, ein Musikfestival gegründet habe, was heute noch existiert, vor 43 Jahren gegründet, liegt natürlich daran, weil ich vorher was erlebt habe, dass der Lehrer mir das zugetraut hat. Und der hat mich eingespannt und der hat mich nicht überfordert. Der hat mir gezeigt: Du kannst es, mach es.

Kristin Thielemann: Ah, krass. Natürlich! Weingartner Musiktage.

Reinhold Friedrich: Und es ist natürlich... Das hat dann dazu geführt, dass ich schon während der Schulzeit selber angefangen habe, kleine Konzerte zu organisieren, wo wir mit Klimpergeld... Also ich war schon immer, ich habe schon immer gern ein bisschen Geld gehabt. Ich habe zum Beispiel irgendwann mal das war bei meinem ersten Mal… jetzt plauder ich aber echt vom Nähkästchen.... Also als ich Trompete gelernt habe, das war 1966, da war ich noch sieben. Und da war ich in bei Reutlingen, in so einem, in so einem Camp, und da haben wir für den Posaunenchor gelernt und da war ein Steinbruch. Und in dem Steinbruch habe ich gefunden Versteinerungen von alten Muscheln und Seelilien und so: Das Zeugs habe ich nach Hause genommen. Und dann habe ich eine Ausstellung gemacht und da musste jeder fünf Pfennig bezahlen, der die Sachen sehen durfte. Also im Keller von unserem Haus. Und da habe ich eine Ausstellung gemacht, hat gesagt, ich habe die, die Fossilien und so. Das hat mir schon viel Spaß gemacht. Dann, ein paar Jahre später, habe ich mit meiner Schwester, mit meinem Bruder und mit Freunden das erste Konzert veranstaltet. Da haben wir auch ein selbstgemachtes Plakat zur Druckerei gebracht und haben gesagt: Könnt ihr das für uns drucken? Und dann haben wir, haben wir das Konzert gemacht. Das hat auch gut geklappt. Die Kirche war wirklich rappelvoll, das war unglaublich. Ein paar Jahre später, ich bin jetzt inzwischen Familienvater, habe ich gedacht: Ach Mensch, mein Sohn David, Posaune und der Nachbarsjunge Klavier und mein anderer Sohn Cello - wir sollten doch auch so ein Hauskonzert machen. Dann haben wir das organisiert, bei mir im Musikzimmer. Dann haben wir alle Nachbarn eingeladen und meine Jungs haben Eintritt verlangt. 0,50 €. Das Problem war: Das Konzert ging nicht los. Ich habe gedacht, wir saßen da alle. Das Konzert ging nicht los. Ich bin dann nach hinten gegangen, in das Nebenzimmer, und da saßen die und haben Geld gezählt. Die haben das Geld gezählt! Und ich gesagt: «Hey Jungs, Geld zählen ist nachher. Jetzt wird erstmal gearbeitet!»

Kristin Thielemann: Super! Monetäre Motivation.

Reinhold Friedrich: Aber die Idee, dass man selber was machen kann und dass man, dass man Leute begeistern kann und dass was dazugehört, das wäre für mich ein Hauptfach in der Ausbildung bei den Lehrkräften für die Jugendmusikschulen. Das wäre ein Hauptfach Motivationstraining. Wie schaffe ich es, dass ich vielleicht sogar die ganze Schule in einem Musical oder sonst was motiviere, ein großes Projekt zu machen, wo alle beteiligt sind, wo sich alle wichtig fühlen und wo jeder spürt: Ohne mich geht es nicht. Ich bin zwar nur ein kleines Rädchen, aber ich bin genauso wie der und der ein kleines Rädchen und zusammen sind wir ein Superding. Also Motivationstraining wäre bei mir eins der wichtigsten Fächer in der Ausbildung, speziell für Lehrer an Jugendmusikschulen.

Kristin Thielemann: Ja, absolut. Vor allem, wenn man merkt, was das Wissen um so ganz grundsätzliche Motivationsbasics für einen positiven Einfluss nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf uns Lehrkräfte hat. Denn motivierte kleine und große Menschen zu unterrichten, das macht einfach viel mehr Freude. Das gibt uns beim Unterrichten auch viel mehr Möglichkeiten, was Tolles zu erschaffen. Und ich als Lehrerin laufe dann auch wieder strahlend und voll motiviert durch die Gegend. Das ist dann ja natürlich der Idealzustand. Aber mir ist es eben auch ganz genauso wichtig, dass wir Lehrkräfte in der Lage sind, uns selbst und unseren Schülerinnen und Schülern zu helfen, selbst wenn es mal eben nicht so optimal läuft. Das gehört ja auch dazu, zu einer völlig normalen Motivationskurve. Wichtig ist nur, dass ich mir als Lehrkraft zu helfen weiß, dass ich das gut begleiten kann. Aber in Sachen musikalische Projekte lag mir noch eine Sache auf der Zunge. Gerade als du erzählt hattest, wenn du die Kinder und Jugendlichen nicht nur ausschließlich musizierend einbindest, sondern ihnen auch die Möglichkeit gibst, sich bei vielen anderen Dingen kreativ einzubringen und auch auszuprobieren, So was wie vielleicht Werbung, Organisation. Es kann ja auch sogar Crowdfunding sein, dieses ganze Drumherum bei einer Veranstaltung auch kennenzulernen. Das beleuchtet dann ja auch wieder so ganz andere Aspekte und auch mal andere Musikberufe. Und die jungen Leute, die können sich dann ausprobieren und am Ende ist es dann nicht so wie bei vielen Konzerten: Der musikalische Beitrag ist dann das einzige, womit sie glänzen können und wird dann oft auch völlig überhöht wahrgenommen, manchmal mit Auftrittsängsten auch besetzt, sondern da war noch so viel anderes wie: Ja, ich habe das Konzertmotto mitgestaltet. Ich habe die Programme entworfen, was weiß ich. Ich war für die Plakate verantwortlich, für die Social Media Werbung, für die Licht- und Tontechnik, vielleicht sogar im Raum. Da gibt es an der Musikschule, in der ich mal gearbeitet habe, hier in der Nähe sogar eine kleine Miniausbildung dafür. Und dann gehören die Jugendlichen dann eben zur «Betriebsgruppe Licht und Ton» werden dann bei Konzerten in den Musikschulen angefragt, ob sie gegen so ein kleines Taschengeld da auch helfen. Auch eine ganz super Sache. Da gibt es ja so viel, was ich für junge Menschen lohnt zu entdecken und kennenzulernen.

Reinhold Friedrich: Oder wir erfinden neue Instrumente. Also ich, ich habe, ich habe so eine Erfahrung zum Beispiel auch gemacht. Als ich ganz schlecht in der Schule war, war ich auf einem, auf einem Workshop. Das ging über die Kirche und da haben wir Musikinstrumente gebastelt, eine Dudelsackpfeife, also so eine Labialpfeife gemacht. Das war, als ich abgestürzt bin. Wo ich, wo ich aus dem... Das war direkt... Es war an Ostern, bevor sie mich wieder von der Schule geworfen haben. Und dann habe ich kurz vorm Zeugnis, weil ich gedacht habe, oh, das Zeugnis wird ganz, ganz übel bin ich zu meiner Musiklehrerin gegangen, die wir alle nur veräppelt haben… Und die war wirklich nur da vorne gesessen… Und dass die nicht ständig geheult hat wegen der beschissenen Klasse, war alles. Dann bin ich irgendwann zu dieser Lehrerin vorgegangen und habe gesagt: «Sie, ich habe gestern an sie gedacht und ich wollte ihnen diese Flöte überreichen. Die habe ich für sie gebastelt.» Die hat angefangen zu heulen vor mir, die hat angefangen zu heulen und ich war wirklich ein scheiß Schüler. Ich war so frech und so blöd. Es war zum Kotzen. Und dann hat die mir im nächsten Zeugnis, was jetzt da stand eine Eins gemacht in Musik, weil sie das so wahnsinnig schön fand, weil die die Flöte hat wirklich funktioniert. Man konnte da, also es war genau das gleiche Prinzip, so ein Labial wie beim Dudelsack drin und das nimmst du halt dann ganz in den Mund und dann kannst du mit diesem Ding richtig eine Tonleiter spielen und die war überwältigt von dem kleinen Drecksack, der sie so oft geärgert hat und hat mir dann eine Eins gemacht. Und diese eins hat mir die Tür geöffnet für das Musikgymnasium.

Kristin Thielemann: Einfach nur Wow. Womit wir wieder ganz am Anfang wären bei den Menschen, die manchmal auch ganz ohne das zu wollen, eine Tür für uns geöffnet haben.

Reinhold Friedrich: Das mit der mit der Flöte, das war mir, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal erzählt habe, weil das war so weit weg.

Kristin Thielemann: Das ist schon echt eine irre Nummer, aber sollte vielleicht so sein.

Reinhold Friedrich: Ja, nach hinten denkst du: Huch? Weil, den Musikzug hat es im Jahr vorher noch gar nicht gegeben. Also das hätte auch gar nicht geklappt. Also, dass ich noch mal sitzen geblieben bin, dass sie mich von der Schule rausgeschmissen haben und eben halt in genau dem Moment wurde dieser Musikzug gegründet, aber hat mir mein Leben gerettet. Also dass wenn ich nicht auf diesen Musikzug gelandet wäre, wäre ich jetzt nicht hier.

Kristin Thielemann: Danke an deinen Musiklehrer!

Reinhold Friedrich: Also mit hundertprozentiger Sicherheit. Und so gab es ein paar Momente. Zum Beispiel, dass ich mit… Ich sollte Schüler werden von Maurice André.

Kristin Thielemann: Ach, echt? Das wusste ich gar nicht.

Reinhold Friedrich: Ich war 14 Jahre alt. Der hat in Karlsruhe an der Christuskirche Brandenburgisches Konzert gespielt. Mein Musiklehrer hatte dann über Europa… der kannte den dort von irgendwelchen h-Moll-Messen usw. hat er Maurice Andre gekannt und hat gesagt: Maurice, warte mal nach dem Konzert. Applaus vorbei, Zack, ist er reingegangen. Reinhold, du bleibst hier sitzen. Maurice. Ich rede mit dem Maurice. Und dann, wenn ich, dann hole ich dich. Wenn ich so weit bin, dann mit ihm geredet und geredet. Und dann ging das Licht aus. Es das eine Licht, dann das andere Licht. Dann wurde eine Tür abgeschlossen, dann die nächste Tür von der Kirche. Ich saß immer noch da und habe dann mit. Bei der letzten Tür bin ich dann rausgesprungen wie so eine Kirchenmaus, die noch durchs Loch saust. Und dann, als ich weg war, geht die Tür auf und mein Musiklehrer sagt: Und das ist der…!? Äh! Oh! Und Maurice André: «Ich habe keine Zeit.» Und du weißt du, wie es nach dem Konzert ist – jeder will weg. Wo ist die Flasche Wein? Wo gibt es… Wo steht mein gekühltes Bier? Also das war dann nichts. Und es war für mich natürlich in dem Moment. Am nächsten Tag gab es einen Riesenärger und der Musiklehrer vom dritten Stock: «Ahhh, Reinhold…. Sofort hoch!» Hat mich zusammengeschissen. «Und ich habe den soweit gehabt!». Und der war natürlich stinksauer auf mich. Und was ist passiert? Ich bin nicht sein Schüler geworden. Und was ist damit passiert? Ich bin super froh, weil sonst wäre ich auch eine ganz kleine Kopie.

Kristin Thielemann: Okay. Ja, ich glaube, viele wären schon dankbar, wenn sie überhaupt eine gute Kopie ihres Lehrers werden würden, aber vergessen dabei oft, dass in ihnen selbst so viel Besseres drinsteckt, wenn sie sie selbst werden und nicht die Kopie von irgendwem.

Reinhold Friedrich: Und das macht den Unterschied. Und das hat mich… Ich bin so froh, dass ich meinen Weg gefunden habe. Der hieß Ed Tarr. Ich musste ganz viel selber auch machen. Ich habe mir zum Teil Oboenlehrer gesucht, ich habe Gesangsunterricht genommen. Ich war bei den Klavierprofessoren unserer Hochschule.

Kristin Thielemann: Ah, okay, ja, aber das tut auch oft gut, so einen Blick von außen, von jemandem, der völlig fachfremd ist. Also jetzt mal trompetenfachfremd auf das, was man selber macht. Ich finde das das macht echt enorm was aus. Es macht im Zweifel sogar dann den Unterschied. Aber das musst du natürlich als Lehrer/Lehrerin auch zulassen können und wollen, dass auch Impulse von anderen kommen und dass deine Schülerinnen und Schüler eben nicht die Kopie von dir werden, sondern ja, sie selbst und vielleicht auch anders, als wir das am Anfang geplant hatten.

Reinhold Friedrich: Und ich habe keinen einzigen Schüler, der so spielt wie ich. Aber was, was ganz witzig ist es gibt so eine Art roter Faden, der durchgeht, dass man Musik so und so betrachtet, also dass Musik dieser Flowing-Prozess ist, der immer irgendwie sich verändernd darstellt und dass man nie… Interpretation ist, nicht, dass man Förmchen im Sandkasten macht und dann hat man 25 Kuchenförmchen, dann kommt der Fisch und dann macht man 25 Fische und so. Das ist ja nicht Interpretation, sondern Interpretation ist dein Verstehen mit deiner Person, mit deinem Ausdruck und das in Kombination mit möglichst gekonntem technischen Know-how. Und dann wird es irgendwie zum Schluss was. Aber das soll bei jedem bitte schön anders sein. Aber natürlich muss jeder mal das Wort Inegalität erfahren und gelebt haben. Und jeder muss wissen, dass man einen Brahms anders spielt als einen Haydn. Dass da halt in den 100 Jahren das und das passiert ist und deswegen die Phrasenlänge usw. Das hat dann auch mit den alten Instrumenten zu tun usw. Also dass das ganze verständlich zu machen, so, dass die Schüler, die Studenten das auch wirklich kapieren, was sie da eigentlich tun und nicht nur irgendein Brei, den ich lange genug gekaut habe. Und jetzt isst du denn. Und dann und dann kommt der nächste und er kriegt gleich die gleiche Portion. Also das ist es halt gar nicht.

Kristin Thielemann: Sandkastenförmchen. Ja, es stimmt schon, aber dann werden wir halt auch irgendwann durch ein Videotutorial ersetzbar. Und das ist es ja absolut auch nicht. Ganz im Gegenteil. Denn in dieser Unterschiedlichkeit, das macht uns ja gerade aus, darin liegt ja auch die Chance.

Reinhold Friedrich: Deswegen macht mir auch Unterrichten so Spaß, weil ich habe eigentlich noch nie... Ich habe überhaupt kein System. Aber hinter dem kein System haben, steckt natürlich schon eine ganz klare Ansage, was ich will und wie ich was mache. Aber ich habe kein System, mit dem ich den Schüler X und den Schüler Y gleichermaßen durch den Fleischwolf drehe. Und es gibt ganz viele Lehrer, da ist, da ist das System klar: So muss es sein! Und du kommst da her und dann wirst du durch den Fleischwolf gedreht und zum Schluss kommt Hackfleisch hinten raus. Das kann es ja gar nicht sein, weil jeder ist so individuell. Ich muss ja erstmal gucken, was kann der, was kann er nicht, wo ist sein Talent, was braucht der, was möchte der, wohin will er gehen? Wo ist eine Tür offen? Wo gibt es eine Chance? Also deswegen bin ich wahnsinnig dankbar, dass alle meine Schüler ihren eigenen Wesenskern gefunden haben, oder? Das ist wirklich nicht das, dass man Kopien herstellt.