Voll motiviert – Der Musikpädagogik-Podcast

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#33 Friedrun Vollmer: Nähe und Distanz im Instrumental- und Gesangsunterricht

Teaser: Ich glaube Lehrkräfte können sehr viel tun, indem sie selbst darauf achten, wie gestalte ich die Beziehung sowohl mit den Worten, die ich wähle, als auch in der Form wie ich mich kleide, oder wie ich nonverbal kommuniziere, als auch eine Verständigung darauf, wie Schülerinnen und Schüler sich im Unterricht geben können. Also ob es zum Beispiel auch für Schülerinnen und Schüler eine Art Verhaltenskodex darin gibt, in welcher Form sie in den Unterricht gekleidet kommen.

Intro: Voll motiviert. Der Musikpädagogik-Podcast von Schott Music, dem Verband deutscher Musikschulen und Kristin Thielemann.

Kristin Thielemann: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von «Voll motiviert» – eurem Musikpädagogik-Podcast. Heute geht es um das wichtige Thema Schutzkonzepte: Nähe und Distanz. In den häufigen Eins-zu-eins-Situationen während unseres Unterrichts gibt es viele Stolperfallen. Situationen, die missinterpretiert werden können und die Risiken bergen. Für Lehrende wie für Lernende. Wie wirkt es eigentlich auf unsere Schülerinnen und Schüler, wenn wir zur Korrektur der Körperhaltung sie an Schultern oder Armen berühren, sie in die richtige Position schieben? Und was passiert eigentlich, wenn eine Schülerin, ein Schüler, uns zu Unrecht beschuldigt, übergriffig geworden zu sein? Wie kann man verhindern, dass ein Kind in der Musikschule sexuelle Übergriffe erleben muss? Und wie kann ich erkennen, wenn ein Kind, was meinen Unterricht besucht, misshandelt wird? Nachdem es im Sport, bei den Kirchen, den Reformschulen und auch bei Chören und Musikhochschulen in den letzten Jahren einige Vorfälle gab, die durch die Medien gegangen sind, tun wir in den Musikschulen, Musikhochschulen und auch private Musiklehrende gut daran, uns mit Schutzkonzepten zu beschäftigen. Als Gesprächspartnerin zu diesem Thema habe ich wieder eine Expertin zu Gast: Es ist die Geigerin, Hochschuldozentin und Musikmanagerin Friedrun Vollmer. Sie war Leiterin der Musik- und Kunstschule in Jena, leitet derzeit noch die Westfälische Schule für Musik in Münster und wechselt zum 1. Oktober 2023 zurück nach Thüringen als Werkleiterin von Jena Kultur. Friedrun Vollmer hat sich im VdM-Bundesvorstand das Spezialgebiet Schutzkonzepte für Musikschulen erarbeitet. Hallo liebe Friedrun, vielen Dank, dass du Dir Zeit für «Voll motiviert» nimmst.

Friedrun Vollmer: Hallo, hallo. Ich freu mich, dass ich hier heute zu Gast sein darf.

Kristin Thielemann: Sehr gerne. Ein extrem wichtiges Thema. Und ich muss gestehen, dass ich nicht ganz neutral in unser Gespräch gehe. Aber warum ist Schutzkonzepte denn überhaupt dein Thema geworden, Friedrun?

Friedrun Vollmer: Du sprachst in der Anmoderation davon, dass ich mir das Thema Schutzkonzepte erarbeitet habe. Das ist zum einen richtig, zum zweiten hat dieses Thema sich mich gewählt. Als ich die Leitung der Westfälischen Schule für Musik übernommen habe, bin ich von den Kolleginnen und Kollegen inständig gebeten worden, mich um dieses Thema zu kümmern, weil das Kollegium schon seit einer Weile damit beschäftigt war, die Thematik Nähe und Distanz im Instrumental- und Vokalunterricht für sich zu diskutieren und gemeinsam zu überlegen: Was geht da, wie kann man sich verbindlich verhalten? Wie kann ein zugewandter, ein achtsamer Unterricht stattfinden, der eben nicht übergriffig ist, der Schutz bietet sowohl den Schülerinnen und den Schülern, aber auch für das Kollegium eine Handlungssicherheit gibt. Es gab in Münster Vorfälle weit vor meiner Zeit auch an der Musikschule, aber das wissen wir ja alle. Münster ist leider auch ein trauriger Hotspot in Missbrauchsvorfällen. Der Ort des Geschehens ist gar nicht weit von meiner aktuellen Wohnung und so habe ich mich eigentlich weniger als Musikschuldirektorin, als mehr als mündige Bürgerin unseres Landes in der Verantwortung gesehen, an dieser Stelle mich einzubringen. Das, was ich tue, geht weit über meine berufliche Verpflichtung oder das, was ich da zu tun habe, hinaus. Ich empfinde das auch als ein Ehrenamt. Weil ich es einfach für sehr wichtig halte, bei dem vielen, was uns in den letzten Jahren bekannt geworden ist an Übergriffigkeiten, an (sexualisierter) Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen, aber auch Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen hier mitzuwirken, dass das einfach nicht mehr so vorkommt. Und ich bin froh, dass der Bundesverband der Musikschulen dann auch gesagt hat: Ja, wir machen uns das auch zu einem unserer Hauptthemen. Und wir schreiben an einer Handlungsempfehlung, an einer Arbeitshilfe für die Musikschulen in ganz Deutschland, wie sie sich mit dieser Thematik auseinandersetzen können und Schutzkonzepte entwickeln können. Dass Musikschulen einfach sichere Orte sind für jedermann und jede Frau.

Kristin Thielemann: Sichere Orte. Ein gutes Stichwort. Das wünschen wir uns. Mal zu den Zahlen: Über 17.000 Kinder wurden allein im Jahr 2022 polizeilich erfasst, weil sie Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. Die Kirchen, Sportverbände, Schulen und auch manche Chöre haben schon ihre Erfahrungen mit Vorfällen gemacht und Schutzkonzepte erarbeitet. Wie muss denn so ein Schutzkonzept aussehen, was den Menschen in einer Musikschule, also den Lehrkräften und den Lehrenden, echten Mehrwert bringt, Friedrun?

Friedrun Vollmer: Wir reden jetzt schon fast nicht mehr so viel von Schutzkonzepten, sondern von Schutzprozessen. Weil, das Wichtigste an dem Ganzen ist das Einüben einer präventiven Haltung. Die auf bestimmten Werten des Miteinanders von Menschen beruhen. Wichtig ist natürlich, sich schon weit im Vorfeld, ehe etwas passiert und auf einmal der Elefant im Raum steht und alle möglicherweise kopflos reagieren, weil Übergriffigkeit oder auch das Bekanntwerden von sexuellem Missbrauch immer mit unglaublichen Emotionen zu tun hat. Da sind Gefühle von Ohnmacht, von Wut, von Hilflosigkeit, auch handeln zu wollen, die Betroffenen zu schützen. Und da kann es sein, wenn Frau oder Mann sich da nicht gut drauf einstellt, dass auch über die eigene Kraft gegangen wird. Von daher ist es wichtig, eigentlich ab sofort sich zu überlegen: Was können wir präventiv tun? Sowohl in der Betrachtung von räumlichen Gegebenheiten gibt es Unterrichtsräume, die vielleicht abgelegen sind, die nur in der Dunkelheit zu erreichen sind. Also Stichwort dunkle Schulhöfe, die überquert werden müssen, Schulen, die in den Abendstunden genutzt werden und wo die Musiklehrerin oder der Musiklehrer alleine mit den Schülerinnen und Schülern ist oder vielleicht auch, die Zuwege durch irgendwelche Parks gehen. Aber auch solche Themen wie: Haben wir wirklich dafür gesorgt, dass von allen Mitarbeitenden erweiterte Führungszeugnisse vorliegen? Das sensibilisiert, wird in Fortbildungen zu Themen wie: Wie kann ich Gespräche so führen, dass Dinge klar und direkt benannt werden, aber auch, ich würde mal sagen, Schamgrenzen gewahrt werden. Oder auch: Wissen wir Bescheid über kindliche Sexualität oder wie kann ich einen Unterricht gestalten, so wie du das sagtest in der Anmoderation, dass ich notwendige Berührungen, die ja oft vorkommen müssen… – auch das wird diskutiert in der Kollegenschaft. Aber wie kann ich das einführen, dass ich eben nicht sage: «Ich darf dich doch jetzt mal anfassen» und dann geht es los. Sondern dass ich eben auch auf nonverbale Reaktion des Kindes achte. Das wäre so dieser ganze Bereich, präventive Maßnahmen. Dann geht es darum, auszuschauen in ein Risikoanalyse: Wo stehen wir da? Wo gibt es mögliche Schwachpunkte in der eigenen Institution oder auch im Miteinander? Und daraus dann auch einen Maßnahmenkatalog abzuleiten und zu schauen, was können wir aus eigener Kraft ändern und wo braucht es einfach Partnerinnen und Partner, weil wir halt uns irgendwo einmieten mussten oder weil bestimmte Gegebenheiten halt im Moment nicht änderbar sind? Man macht nicht von jetzt auf gleich in sämtliche Türen Sichtschutzfenster, oder hat gleich den großen Geldvorrat da, um wirklich alle entsprechend fortzubilden. Aber das kann ja alles geplant werden. Ja, und es geht vor allen Dingen auch darum, diejenigen, um die es geht, zu beteiligen, also Schülerinnen und Schüler mit hineinzunehmen, Eltern auch zu beteiligen und auch unbedingt die Träger und die politische und die Öffentlichkeit auch mit hineinzunehmen und zu sagen: Wir kümmern uns jetzt um dieses Thema. Und schon allein das, dass eine Musikschule nach außen abstrahlt, dass das Thema Musikschule als sicherer Ort auch gelebt wird, hält mögliche Täterinnen und Täter davon ab, möglicherweise an der Musikschule um einen Honorarvertrag oder eine Mitarbeit sich überhaupt zu bewerben.

Kristin Thielemann: Oh, viele wichtige Aspekte sprichst du da an! Das Stichwort Unterrichtsraum ist gerade gefallen. Wie kann denn so ein idealer Unterrichtsraum aussehen, der dem Tandem Lehrkraft-Lernende die Möglichkeit zu ungestörtem Lernen und Musizieren, aber auch gleichzeitig größtmögliche Transparenz und Sicherheit bietet?

Friedrun Vollmer: Ein Unterrichtsraum. Und da denke ich jetzt sowohl den analogen Unterrichtsraum in einer Musikschule oder in einem der Kooperationsorte ebenso wie den digitalen Unterrichtsraum. Also Stichwort Pandemie, ZOOM-Unterricht und all dies sollte möglichst so gestaltet sein, dass sich auch der Unterrichtsraum auf das Wesentliche konzentriert. Weil, der Raum hat ja auch Einfluss auf das Unterrichtsgeschehen. Das heißt, alles, was da zu privat ist, gehört nicht hin. Wie kann man es eben auch gestalten, dass auch gewisse Sicherheiten für Kinder, für Schülerinnen und Schüler und Lehrende gegeben sind? Das beste Mittel der Wahl ist tatsächlich dieses Sichtschutzfenster oder dieses Sichtfenster in der Tür, weil das eben auch den Eindruck vermittelt: Wir machen hier nichts Geheimes. Und wir haben aber auch nicht das Gefühl, dass wir jetzt hier kontrolliert werden, wollen, müssen, sonst wie was. Kameras in den Räumen könnten eine Lösung sein. Aber wer soll sich das alles angucken? Und ich persönlich komme ja aus der ehemaligen DDR. Also wenn das Ganze in Richtung Überwachungsmentalität geht, dann hilft das glaube ich überhaupt niemanden. Und es sollte jederzeit die Einladung an die Eltern da sein, dass sie auch beim Unterricht dabei sein dürfen. Das kann man absprechen, dass es vielleicht gerade wenn Kinder auch in einer pubertären Ablösung von ihren Eltern sind, manchmal auch gut, wenn sie ein persönliches Vertrauensverhältnis zu der Lehrkraft haben können. Aber die Eltern sollten sich die ganze Zeit eingeladen fühlen.

Kristin Thielemann: Ich mach das auch ganz gerne so, dass ich Eltern einlade, digital am Unterricht teilzunehmen, der analog vor Ort bei mir stattfindet. Und dann schalte ich meine Kamera ein und dann können sie via Zoom teilnehmen. Ich habe dann immer eine hospitierende Oma pro Woche. Das ist immer eine ganz, ganz schöne Situation, weil die da so ein bisschen folgt. Und die sitzt da strickend in ihrem Sessel und ab und zu grunzt sie mal ein bisschen oder sagt: Ach, so zum Abschluss wird sie noch mal dies oder jenes hören. Aber natürlich, die Tür zum Unterrichtsraum ist immer offen. Das wissen die Eltern auch. Ich muss immer regelmäßig einladen. Es wird trotzdem nicht so wirklich genutzt. Aber wovor ich eigentlich am meisten Angst hätte, ist nicht, dass ich jetzt irgendwie durch einen dunklen Park zu meinem Unterrichtsraum müsste oder so, aber ich hätte eher Angst beschuldigt zu werden als Lehrkraft, dass ich was getan habe, was ich nicht tun darf. Wie kann ich dem dann entgegenwirken?

Friedrun Vollmer: Ja, das ist wirklich ein Thema, weil wir durchaus auch Situationen haben, das sich – also konstruiert – Schülerinnen und Schüler in ihre Lehrkräfte verlieben, diese das verständlicherweise und auch richtig zurückweisen und dann möglicherweise auf einmal irgendwas im Raum steht, oder leider haben wir es ja auch mit Kindern und Jugendlichen zu tun, also wenn wir hören, in jeder Schulklasse an der allgemeinbildenden Schule sind bis ein bis zwei betroffene Schülerinnen und Schüler, dann sind die natürlich auch bei uns im Unterricht und Betroffene gehen unterschiedlich mit dem Leid, was ihnen widerfahren ist, um. Manche gehen sehr nach innen, manche entwickeln eine Aggressivität, auch eine Autoaggressivität. Und es gibt aber auch die… so eine umgekehrte Reaktion, die dann in Richtung Täterschaft geht. Die meisten der Täterinnen und Täter, vor allen Dingen im Bereich der sexualisierten Gewalt sind irgendwann mal – und jetzt sag ich bewusst – Opfer gewesen, die nur indem sie das Autoaggressiv dann weiterverfolgen, damit auch ein Umgang finden können.

Und oftmals kommen ja dann noch andere Problemlagen hinzu, so dass dann manchmal ein Vorwurf an eigentlich Dritte oder auch Projektionen auf Lehrkräfte, wo ein Missbrauch eigentlich in der eigenen Familie liegt, aber das Kind, das dann sozusagen auf eine außenstehende Person projiziert, um sich überhaupt Gehör verschaffen zu können, dass es oft sehr, sehr schwer zu durchdringen. Ich glaube, Lehrkräfte können sehr viel tun, indem sie selbst darauf achten: Wie gestalte ich die Beziehung sowohl mit den Worten, die ich wähle, als auch in der Form, wie ich mich kleide oder wie ich auch nonverbal kommuniziere, als auch eine Verständigung darauf, wie auch Schülerinnen und Schüler sich im Unterricht geben können. Also ob es zum Beispiel auch für Schülerinnen und Schülern eine Art Verhaltenskodex darin gibt, in welcher Form sie in Unterricht gekleidet kommen. Der Fall, der mir persönlich bekannt geworden ist, wo sich jemand hilfesuchend an mich gewandt hat: ein Cellolehrer. Weil eine Schülerin auch mit dem Ziel, ihn aufzureizen, in den kürzesten Hotpants in Unterricht kamen. Das ist schwierig und wir haben dann einvernehmlich uns an die Eltern gewandt und darum gebeten, dass die Eltern mit ihren Jugendlichen zu sprechen, dass da einfach auch eine Schmerzgrenze überschritten war.

Kristin Thielemann:

Nach allem, was ich von männlichen Kollegen aus der Musikschule höre, ist das auf jeden Fall eine Sache, mit der vielleicht irgendwann in ihrer Karriere rechnen müssen, dass es Schülerinnen gibt, die sowas ausprobieren. Oder auch, dass es Teenager gibt, die sich in ihre Lehrkraft verlieben. Solange es bei einer heimlichen Schwärmerei bleibt, die dann irgendwann wieder vergeht, ist das ja völlig in Ordnung, aber wenn sich dieser junge Mensch in den Kopf setzt, dass mehr daraus werden muss und das ihrer Lehrkraft zeigt, kann die Situation ganz schön tricky werden. An unserer Musikschule haben wir so einen Kleidungskodex jedenfalls nicht, weil das bisher einfach noch nicht das Thema war. Noch nicht notwendig, aber, aber… neulich mit einem Kollegen geplaudert, der sich kürzlich mehr als unwohl in seinem Unterricht gefühlt hat, weil eben auch eine extrem leicht bekleidete junge Lady in seiner Lektion saß. Er hat das dann aber, wie ich finde, ganz clever gelöst. Er hat sich einfach in die am weitesten entfernte Raumecke gestellt und sich extrem distanziert gegeben und das ist sonst einfach gar nicht seine Art. Er meinte, die Schülerin, die hätte das garantiert gespürt, wäre sich in ihrem Bikini mit dem halb durchsichtigen Strandkleid darüber sicher deplatziert vorgekommen und wäre in der Stunde danach auch wieder komplett normal gekleidet erschienen. Mein erster Gedanke war ja: Hättest du doch einfach was gesagt. Wer weiß, was sich das Mädchen in diesem Moment gedacht hat, als du da so schweigsam in der hintersten Raumecke standest. Vielleicht: Ja, der ist heut nur komisch, weil ihm jetzt gerade die Spucke wegbleibt. Ich habe nur gedacht, schick doch die Schülerin einfach wieder heim, wenn es deine persönlichen Grenzen überschreitet. Aber ja, wer weiß, wie ich in der Situation reagiert hätte. Das sagt sich ja im Nachhinein immer alles so leicht.

Friedrun Vollmer: Ich kenne tatsächlich bisher nur eine Musikschule. Das ist die Musikschule in Berlin Spandau, die ein Verhaltensblatt für Schülerinnen und Schüler entwickelt haben, nachdem sich das Kollegium auch einen Verhaltenskodex gegeben hat. Und der lautet «Deine Rechte, deine Pflichten». Das geht darauf, Kinderschutz und Mitwirkungsrechte, die sich ja ableiten aus den Kinderrechten durchzudefinieren: Was ist dir möglich, auf was kannst du bestehen, an welchen Stellen kannst du mitwirken? Aber was heißt dann auch deine eigene Mitwirkungspflicht, damit es eben zu einem gedeihlichen Miteinander kommt, was auch andere nicht in Verlegenheit oder gar in eine Gefahrensituation bringt?

Kristin Thielemann: Okay, du hattest eben gesagt: Worte. Welche Worte sind denn hilfreich oder eben auch weniger hilfreich, die wir benutzen können im Unterricht?

Friedrun Vollmer: Das geht bei einer gendersensiblen Sprache los. Dass ich genau darauf achte: Formuliere ich so, dass wirklich alle auch gemeint sind? Es geht weiter. Indem ich überlege: Rede ich meine Schülerinnen und Schüler mit Schätzchen an oder auch latent abwertend.

Kristin Thielemann: Also dann am einfachsten sein Gegenüber mit dem Vornamen ansprechen?

Friedrun Vollmer: Ja, und auch überlegen: Welche Botschaft vermittle ich hier eigentlich?

Kristin Thielemann: Haltungskorrektur. Berühren ja oder nein? Bei der Recherche zur heutigen Podcastfolge habe ich wie noch niemals vorher gespürt, wie viel Sprengstoff dieses Thema birgt. Denn neben Menschen, die mir erklären wollten, dass ich auf gar keinen Fall mein Schüler, meine Schülerinnen in irgendeiner Weise körperlich berühren darf, wenn ich zum Beispiel was in der Haltung korrigieren will, wollte ich eigentlich noch ein oder zwei weitere Menschen dabei haben, die sagen: Es ist aber wichtig für uns Musiklehrkräfte, dass wir Schülerinnen und Schülern ganz genau zeigen können, wie ein Instrument zu halten ist, wie die Atmung funktioniert, in welcher Position die Schultern, der Oberkörper gehalten werden soll. Nur so geht wirklich guter Unterricht. Und dazu muss ich die Lernenden eben auch einmal berühren dürfen. So richtig öffentlich vertreten wollte diese Meinung dann aber doch niemand, den ich für dieses Gespräch vorgesehen hatte. Dann frage ich doch einmal stellvertretend für alle, denen diese Frage auf der Seele brennt: Was rätst du als Spezialistin einer Lehrkraft, die sagt: In meinem Unterricht ist es zentral, dass ich eine Schülerin, einen Schüler zur Haltungskorrektur berühren darf.

Friedrun Vollmer: In der Auseinandersetzung mit dieser Frage in meinem eigenen Kollegium in Münster ging die Meinung auch ganz weit auseinander. Da gibt es auch Leute, die sagen: Am besten berührungsfreien Unterricht! Und andere vor allem in der Früherziehung, wo ja Kinder auch Körperkontakt suchen, oder im Gesangsunterricht, wo es notwendig ist, zum Beispiel Hände auch mal auf die Flanken zu legen und dadurch auch zu zeigen, wo eigentlich der Luftstrom hingehen soll. Oder im Klavierunterricht mal ein Handgelenk zu führen, um zu demonstrieren, wie Schwere entgegen Druck gestaltet werden kann, um einfach auch eine Körperwahrnehmung zu erspüren. Es war und es ist eine große Unsicherheit da. Und das ist auch gut so, weil so vieles, was früher einfach selbstverständlich gewesen ist, das müssen wir erst mal durchbrechen und uns aber auf eine neue Selbstverständlichkeit miteinander verständigen. Für mich ist es durchaus vorstellbar, dass ich bei notwendigen Berührungen die Schülerin den Schüler frage, aber nicht einmal pauschal am Anfang des Schuljahres: Ich darf dich doch im Unterricht berühren, ist doch in Ordnung, oder? So, und das gilt jetzt für die nächsten Wochen. Sondern wirklich immer in dem Moment, wo es dran ist. Auch erklären, warum das jettz notwendig ist. Und zugleich aber sensibel bin, ob sie oder er möglicherweise sagt: Ja, ja. Aber ich an der nonverbalen Körpersprache spüre, eigentlich ist es doch nicht so recht. Das geht es ja auch bei den Schülerinnen und Schülern manchmal tagesformabhängig, wie sie sich fühlen, wie sie möglicherweise gerade selbst in ihrem Körper unterwegs sind, ob sie einen an dem Tag ein gutes Verhältnis zu sich haben und dann das für sie auch gut ist. Oder möglicherweise (und das ist vor allen Dingen bei vorpubertierenden und bei pubertierenden Schülerinnen und Schülern) sie sich überhaupt nicht wohlfühlen in ihrem Körper, bei dem ja gerade so ein Umbruch geschieht und sie da auch wieder ein neues Verhältnis zu sich finden müssen.

Kristin Thielemann: Ich muss dir erzählen, ich hatte einen Trompetenlehrer, der in dieser Hinsicht echt ein Vorbild für mich war. Wenn der nämlich testen wollte, ob ich richtig geatmet hatte, dann sollte ich zuerst immer meine Hand auf meinen Bauch legen und dann hat er nur meine Hand berührt. Und außerdem hat er bei diesen Erklärungen immer darauf geachtet, dass jemand anderes im Raum auch anwesend war. Das war auch eines der ersten Dinge, die er in der Schnupperstunde mit Elternbegleitung gesagt hat: Die Eltern sollen, wenn irgend möglich immer mal für ein paar Minuten mit in die Stunde kommen. Und bei ihm wird nicht angeklopft, sondern die Tür ist einfach offen und da kommt man dann einfach auch direkt rein. Er hatte kein Fenster in der Tür, aber das war jetzt ja auch irgendwie Mitte Ende der 90er. Und in diesen Minuten mit Elternbegleitung, hat er gesagt, würde er Dinge demonstrieren und erklären, die einfach eine Berührung erfordern würden. Und er war aber ansonsten körperlich total distanziert. Und da ich habe mich jetzt auch im Nachhinein gefragt, vielleicht hat er mal eine schlechte Erfahrung damit gemacht. Ich weiß es nicht. Aber es gab mal eine Situation, wo ich nach einem gewonnenen Probespiel oder war das irgendeinem grandios gelaufenen Wettbewerb zu ihm dann in die Unterrichtsstunde bin und ich habe ihm angesehen, dass er mich wahnsinnig gerne in die Arme schließen würde, oder vielleicht hätte er mir auch einfach nur gerne anerkannt auf die Schulter geklopft. Er kam zu freudestrahlend ein paar Schritte auf mich zu und hat sich dann aber wieder umgedreht und auf seinen Stuhl gesetzt und mit seinem unnachahmlichen amerikanischen Akzent seine Begeisterung verkündet: «Yeah, Fantastic Kristin, you did it!» Und ich habe nur gedacht: Ja, warum glaubst du mir denn jetzt nicht auf die Schulter? Oder warum umarmst du mich denn jetzt nicht? Das hätte mir in dem Moment so wahnsinnig gutgetan. Ja, ich dachte in dem Moment, ich hätte es vielleicht doch nicht so gut gemacht und ich wäre ihm doch irgendwie ganz gleichgültig.

Friedrun Vollmer: Ganz bestimmt nicht. Aber, aber da zeigt sich natürlich auch Professionalität, dass es möglicherweise nicht die Berührung, nicht die Umarmung, nicht die physische Umarmung braucht. Denn die psychische Umarmung, die Anerkennung. Wie kam durch sein Strahlen ja, glaube ich, sehr zum Ausdruck. Und es ist und das ist natürlich auch ein Punkt, den wir auch immer, auch wenn wir uns mit Schutzprozessen auseinandersetzen und auch wie begegnen wir uns? Es gibt ja auch kulturelle Unterschiede, dass sich Männer küssen. Dass Männer Hand in Hand gehen, ohne dass da homoerotische Beziehungen da sind. Oder dass man sich möglicherweise nicht die Hand gibt im asiatischen Raum und sich auch gar nicht so intensiv in die Augen schaut, weil das als unhöflich gilt. Da gibt es so viele kulturelle Unterschiede und die Vorstellung, dass es natürlich das Ideal ist, wenn im Unterrichtsraum die Eltern mit anwesend sind oder vielleicht auch eine andere Lehrkraft im Teamteaching oder an Hochschulstandorten Musikstudierende. Das ist ja oftmals in der Realität nicht so und trotzdem kann ich mein Unterricht so darauf einstellen, dass ja das alte Bewusstsein schon im Untergrund die ganze Zeit mitläuft.

Kristin Thielemann: Friedrun, mal zu den Handlungsoptionen für uns Lehrkräfte. Was mache ich denn, wenn ich den Eindruck habe, dass mein Schüler, meine Schülerin in größeren Schwierigkeiten steckt und es da vielleicht eine Missbrauchssituation geben könnte? Spreche ich das ganz offen an oder versuche ich es eher subtil, indem ich beispielsweise einen Flyer von einer Beratungsstelle mitgebe oder auch den Link zu einem Hilfsportal sende?

Friedrun Vollmer: Wir haben in der Arbeitshilfe, die der Bundes-VdM jetzt auch veröffentlichen wird, zwei Notfallpläne entwickelt. Der eine Notfallplan ist für das Kollegium, der andere Notfallplan ist für die Leitungsebene, weil da natürlich dann auch personal rechtliche Konsequenzen möglicherweise gezogen werden müssen. Und die Notfallpläne stellen drei aufeinander folgende Grundsituationen dar. Das eine: Es ist ein vager Verdacht da. Also genau das, was du eben beschrieben hast: Ich habe, ich habe ein dummes Gefühl. Da ist so ein vages Gefühl, hier stimmt irgendwas grundsätzlich nicht. Die nächste Stufe wäre: Es ist ein begründeter Verdacht da. Es wurde was beobachtet. Und die dritte Eskalationsstufe: Es besteht akut Gefährdung für das Kind, für den Jugendlichen, weil dann ganz anders gehandelt werden muss. In dieser ersten Stufe «Ich hab das Gefühl, hier stimmt was nicht», ist es glaube ich immer als erstes gut, sich mit einer Kollegin, mit einem Kollegen auszutauschen und Beobachtungen zu teilen, um das erst mal zu reflektieren, um auch für mich artikulieren zu können: Was kommt mir da komisch vor? Wichtig ist, ab dem ersten Moment auch eine Art «Vermutungstagebuch» zu schreiben. Das muss jetzt nicht irgendwelchen Formalien. Also wir Deutschen entwickeln ja für alles ein Formular – das kann auch echt mal einfach auf den Zeitungsrand gekritzelt sein. Aber da sich unser Narrativ, unsere Bewertung auch einer Situation mit allem, was wir dann als Weiteres erfahren, verändert, ist es wichtig, vom ersten Moment an die ersten Eindrücke auch aufzuschreiben. Möglicherweise ist es nicht so eine gute Idee, dann sofort zu den Eltern zu gehen. Weil Eltern empfinden das manchmal auch als eine grobe Einmischung in ihre familiäre Situation. Manche reagieren natürlich dankbar und sagen: Oh, da muss ich hingucken! Aber gerade bei vermuteter Übergriffigkeit bis Missbrauch in dem Nahfeld der betroffenen Person, also das meiste kommt in Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft vor, als auch… Das kann ja auch sein, dass wir als Lehrkräfte feststellen, hier liegt eine Bulimie vor oder andere Dinge, dass sich ein Kind ritzt. Das kriegen Eltern manchmal gar nicht so mit oder wollen es nicht wahrhaben. Damit muß schon sensibel umgegangen werden und ab einem bestimmten Moment ist es unablässig, die Musikschulleitung mit einzubeziehen. Und wer auch immer nur ein offenes Ohr hat, sind natürlich auch Kinderschutzverbände: Zartbitter oder Wildwasser. Oder es gibt ja auch bei der Bundesregierung die eine Stabsstelle, die «Unabhängige Beauftragte für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs». Da gibt es eine hervorragende Webseite, wo man seine Postleitzahl eingeben kann. Und sofort kommen Beratungsstellen in meiner Nähe werden aufgezeigt. Das kann der Kinder- und Jugendschutzdienst der Kommune sein, das können jugendpsychiatrische Beratungsstellen sein oder eben auch kirchliche oder staatliche Hilfsstellen, bei denen ich mich erkundigen kann.

Kristin Thielemann: Aber es muss ja auch gar nicht immer gleich der sexuelle Missbrauch sein. Es kann ja auch schon so ein psychischer Druck vorhanden sein, der ungesund ist und sich negativ auf die Entwicklung dieser jungen Menschen auswirkt. Ich hatte kürzlich so einen Fall von psychischer Gewalt bei mir im Unterricht. Da kam eine Schülerin und die hat mehrmals von einem Lehrer erzählt. Dieser Lehrer arbeitet sehr viel mit negativer Motivation, mit ganz subtilem, psychischem Druck auf die Kinder und Jugendlichen in diesem Ensemble. Und ja, ich hoffe schwer, dass es nur der psychische Druck war. Das war nämlich ihr Schulmusiklehrer, bei dem sie in einem Ensemble in einem kleinen Orchester gespielt hat. Die Schülerin hat das schon ein paarmal erwähnt, dass es eine schwierige Situation ist mit diesem Lehrer. Und dann kam sie vor ein paar Wochen zu mir in die Stunde, und wir haben uns angefangen einzuspielen, und ich habe schon bei den ersten Tönen bemerkt auf der Trompete, dass sie völlig verklemmt atmet und dass sie auch ansonsten überhaupt nicht frei ist und einfach, dass irgendwas überhaupt nicht stimmt. Ich habe dann nachgefragt, ob alles okay ist und dann ist es sofort aus ihr herausgesprudelt: Ja, der Lehrer hat ihr angedroht, mich anzurufen, ausgerechnet mich und Schlechtes über sie zu erzählen, dass sie stört und dass sie nicht richtig mitmacht und dass sie unmotiviert ist. Dann habe ich noch gedacht habe: So, so, da ist also ein junger Mensch selbst schuld an seiner Demotivation in diesem toxischen Kontext!? Die Erklärung hätte ich ja mal gern gehört von dem Lehrer! Aber gut. Ich habe dann gesagt: Weißt du, (Name der Schülerin mit Piepton überdeckt), wir kennen uns wie lange? Fünf Jahre! Wir kennen uns wirklich gut. Und du weißt, dass ich immer zu dir stehe, selbst falls du mal wirklich richtigen Mist gebaut hast. Das passiert uns allen irgendwann mal und das darf auch mal so sein. Aber bei mir muss kein Herr Soundso ankommen und über dich ableeren oder Böses über dich erzählen. Er kann mich anrufen und er kann mir sagen, dass er sich nicht zu helfen weiß und kann sagen kann fragen, ob ich ihn nicht unterstützen könnte. Da erwischt er mich auf dem richtigen Ohr. Aber wenn es darum geht, jemanden schlecht zu machen, dann kann ich dir nur sagen: Mit mir nicht. Das würde ich nie zulassen. Und du kannst dir ganz sicher sein, dass ich hundertprozentig zu dir stehe, selbst wenn es mal was gibt, was nicht so fein war. Du bist eine tolle junge Musikerin und wenn du nicht mehr in dieses Schulorchester gehen magst, dich dort als Solistin auf die Bühne stellen magst, dann respektiere ich das voll und ganz. Und ich werde dich dabei unterstützen, dass wir etwas finden, was besser zu dir passt und wo du dich wieder wohlfühlst. Ich empfinde das auch als meine Verantwortung im Unterricht Schülerinnen und Schüler stark zu machen und zu zeigen, dass ich ein offenes Ohr für sie habe, wenn es da was gibt, was sie mit einer erwachsenen Vertrauensperson besprechen möchten, dass wir in einem geschützten Rahmen unterwegs sind und sie sich wirklich hundertprozentig meiner Unterstützung sicher sein können, dass ich zu Ihnen stehe. Aber ich finde, man darf die Musikstunde auch nicht zu so einer «Gesprächstherapie» machen, denn dafür sind wir ganz klar nicht die Fachpersonen.

Friedrun Vollmer: Ja, es gibt ja, oder es sollte bei jeder Kommune eine so genannte, insofern erfahrene Fachkraft geben, die speziell geschult worden ist, die eine kinder- oder jugendpsychiatrische oder psychologische Ausbildung hat, die dann auch entsprechend einwirken kann oder auch zwischen den Zeilen liest. Die Botschaft, die wir als Musiklehrende Kindern geben können, ist: Ich glaube dir und du hast keine Schuld. Das Feld ist ja weit. Das geht von Grenzverletzungen, die möglicherweise unbewusst passieren oder weil es keine klaren Regelungen gibt, über bewusste Übergriffe bis hin zu gezielt eingesetzten Missbrauch. Und das kann auf einer körperlichen, das kann auf einer psychischen und auf einer seelischen Ebene stattfinden. Und auch Überforderungsdruck, den Instrumental- oder Vokalpädagoginnen aufbauen, gehört mit in dieses Spektrum, das möglicherweise mit Missachtung gearbeitet wird. Wenn die Schülerin, der Schüler nicht die erwartete Leistung bringt, dass mit Belohnungssystem gearbeitet wird, dass übergriffig nachgefragt wird: Was machst du denn am Wochenende? Was, du willst dich mit Freunden treffen? Aber du weißt doch, wir haben den Wettbewerb. Wann übst du denn bis dahin, dass Schülerinnen und Schülern vorgeschrieben wird, ob sie an irgendwelchen Familienfeiern teilnehmen können, weil da ja eigentlich irgendwelche Konzerte, Vorbereitungskonzerte, Proben, irgendwas geplant gewesen sind.

Kristin Thielemann: Das ist dann aber auch sicher ein schmaler Grat zwischen Übergriffigkeit, Druck und der Hilfe zum Finden einer guten Struktur. Sich auf solche Verpflichtungen vorzubereiten, von denen du da gerade gesprochen hast.

Friedrun Vollmer: Hier gilt es, dass sich tatsächlich dann die Lehrkräfte auch selbst hinterfragen. Aus welcher Motivation heraus mache ich meinen Unterricht? Und. Und das ist leider kein Einzelfall, dass persönliche Misserfolgserlebnisse oder zu wenig eigene Reputation dann versucht wird aufzuarbeiten, in dem Schülerinnen und Schüler als mein persönliches Aushängeschild betrachtet werden. Also gerade im Kontext von «Jugend musiziert» gibt es da leider zu viele Beispiele, wo man das Gefühl hat, eigentlich geht es der Lehrkraft, die dann auch noch mit vorgeht und sich da präsentiert: Huhu, guck mal, das ist jetzt hier meine Schülerin, die gleich so toll Klavier spielen wird. Und wenn das dann noch gepaart ist mit Helikoptereltern, dann tut mir da manchmal so manches Kind leid.

Kristin Thielemann: Hast du vollkommen recht. Auch sicher hier immer eine echte Gratwanderung, denn alleine lassen möchten wir unsere Schülerinnen und Schüler ja auch nicht auf einer «Jugend musiziert»-Bühne.

Friedrun Vollmer: Und nochmal zu dem Beispiel mit der Schülerin und dem Schulorchester. Es ist glaube ich auch ganz gut, den Jugendlichen auch zu sagen Sprecht doch auch mal in eurer Peergroup darüber. Möglicherweise geht es ja den anderen genauso. Und möglicherweise, wenn einer anfängt, den Mund aufzumachen, machen es die anderen auch.

Kristin Thielemann: Ja, und genauso haben die Kinder und Jugendlichen diesen Fall eben auch fast selbständig gelöst, denn es waren tatsächlich so, dass noch einige andere betroffen war. Sie haben sich zusammengetan, sie haben auch die Eltern mit ins Boot geholt, die Klassenlehrkräfte, sie haben sich auch der Unterstützung von uns MusiklehrerInnen versichert. Und dann kam heraus, dass diese Leitung des Schulorchesters schwere private Probleme hat und sich in einem leicht unruhigen, hibbeligen Schulorchester, was nach einem anstrengenden Schultag noch 90 Minuten proben sollte und was einen wichtigen Auftritt vor der Nase hat, nur noch zu helfen weiß, indem er da psychischen Druck, negative Motivation, hineingibt.

Friedrun Vollmer: Und da gilt es einfach ja auch dahinter zu gucken: Warum reagieren andere Menschen so? Das ist ja oftmals nicht böser Wille, sondern eben tatsächlich, wie du eben auch sagtest, Grenzsituationen, in denen sich die anderen befinden oder sie sehen, fühlen sich möglicherweise auch von Schulleitung nicht mehr gesehen oder sind selbst schon in so einer Spirale von Burnout, drohendem Burnout begriffen, oder auch, dass ich da möglicherweise durch eine sehr lange Berufstätigkeit irgendwie auch was totgelaufen hat und es neue Impulse braucht.

Kristin Thielemann: Nun muss es ja nicht zwingend die Lehrkraft sein, deren Handlungen missverstanden werden oder die selbst zum Täter, zur Täterin in Sachen Missbrauch werden. Unsere Schülerinnen und Schüler sind vielfach auch in Ensembles, Bands, Orchestern und Chören aktiv, wie wir ja jetzt gerade schon angesprochen hatten. Hier möchte ich mein Kind natürlich auch vor übergriffigem Verhalten geschützt sehen, auch vor übergriffigem Verhalten durch andere Ensemble-, Band-, Orchester-, Chormitglieder. Was sollen wir Lehrkräfte, die wir dann vor einer Gruppe stehen, in Sachen Schutzkonzepten unbedingt auf dem Radar haben?

Friedrun Vollmer: Für jede Gruppe sollte es Regeln geben, Regeln des Miteinanders. Das geht zum Beispiel bei Probenfahrten oder Konzerttourneen los, dass klar geregelt ist: Wie verhält man sich in Fällen von Alkohol- oder Drogenmissbrauch? Über Regeln, klare Regeln, wie ist das, wenn in Freizeitsituationen die Mitglieder des Ensembles auch alleine unterwegs sein dürfen? Wann also wie lange geht das, Wann sollen die wieder zurück sein? Wie ist es mit Ruhezeiten, Schlafzeiten? Wie sind aber auch die Vorbildfunktion der Betreuenden, die da mitfahren? Auch hier darauf zu achten, dass erweiterte Führungszeugnisse auch da von allen vorliegen, dass man da einfach zumindestens eine Form von Sicherheit hat. Und wenn ich jetzt als einsame Leiterin mitbekomme, hier passiert irgendwas in der Gruppe, Stichwort Mobbing eines Mitglieds. Das kann auch Cybermobbing sein. Das geht ja noch viel, viel schneller und viel ist viel härter als ein ich sag jetzt mal analoges Mobbing, was ja auch schlimm ist. Aber alles was im Netz passiert, kann sich viel schneller verbreiten und ist vor allen Dingen teilweise irreversibel, weil das ist dann da. Das lässt sich teilweise nicht wieder löschen. Und zu der Pein für den Betroffenen, die Betroffene, dass das überhaupt geschieht, kommt diese zweite Pein, dass es auch nicht rückholbar ist, dass es nicht abstellbar ist. Ich glaube, dass es wichtig ist, dann klar zu sagen: Wir spielen nicht nur, wir kommunizieren nicht nur musikalisch miteinander, sondern wir sind auch füreinander verantwortlich, wie wir unser Miteinander als Gruppe gestalten. Und wenn so was auftritt, immer das direkte Gespräch und benennen, was mir hier auffällt, aber auch bei den Tatsachen bleiben und nicht vorschnell irgendwelche Dinge interpretieren.

Kristin Thielemann: Hast du noch Tipps, was es zu beachten gilt, wenn wir als Leitungsperson mit einer Gruppe auf Fahrt sind?

Friedrun Vollmer: Da gibt es ganz klare Dinge, die zu beachten sind, wie zum Beispiel einen Elternzettel, den die Eltern unterschreiben, wie sie auch ihrerseits ihre Kinder oder Jugendlichen auf diese Fahrt einstimmen, indem eben auch die gesetzten Verhaltensregeln auch durchgesprochen werden zuhause. Aber dass auch darauf geachtet wird, wenn zum Beispiel Mädchen und Jungs mitfahren, dass dann der Betreuungsschlüssel entsprechend gut ausgestattet ist und nicht zwei Leute auf 40 Jugendliche aufpassen. Der ideale Betreuungsschlüssel ist eine Betreuungsperson auf zehn zu Betreuende. Aber dass dann eben auf Frauen und Männer mitfahren, wenn auch Jungs und Mädchen mit dabei sind. Und dass auch diese Personen eingewiesen sind, dass man sich zum Beispiel im Falle von Heimweh nicht mit auf das Bett des Kindes setzt, sondern dass man sich einen Stuhl mit ranschiebt und möglicherweise dann andere Kinder mit dazunimmt.

Kristin Thielemann: Stichwort Teilhabe. Nun ist es für den Lernerfolg und auch für die Musikvermittlung ein ganz tolles Ass im Ärmel, wenn Schülerinnen und Schüler selbst Inhalte vermitteln dürfen, also Peer-to-Peer-Learning oder wenn sie auch gestaltend-organisierend an Projekten beteiligt sind. Das Stichwort Artistic Citizenship hatten wir kürzlich in Folge 31 mit Wolfgang Lessing. Wie wichtig sind denn solche Lern-, Konzert- und Vermittlungssettings, wenn es darum geht, eingefahrene Machtstrukturen aufzulösen, die ja auch Gefahren des Missbrauchs bieten?

Friedrun Vollmer: Vor allem auch im Hinblick auf das Fachkräftemangelproblem, was wir ja auch an Musikschulen haben, ist es glaube ich ganz wichtig, dass wir sehr zeitig anderen oder begabten Schülerinnen und Schülern, wo wir denken, die könnten vielleicht eine pädagogische Ader haben, ihnen ermöglichen, sehr zeitig da schon im Unterricht mitzuwirken. Und Kristin, was mich sehr beeindruckt hat, ich habe einmal in Jena beim Thüringischen Landesverband der Musikschulen einen Vortrag von dir gehört, wo du davon berichtet hast, wie du ältere Schülerinnen und Schüler mit einbeziehst sozusagen als LernpatInnen und was das mit denen auch gemacht hast, dass sie dann sozusagen wie so einen Kick bekommen haben. «Oh, ich soll da jetzt etwas vorführen, da muss ich dann auch wirklich richtig gut mit dransein, da muss ich mich auch drauf vorbereiten. Und dieses auf einmal auch gefragt und gefordert zu sein, ihnen selbst nochmal einen richtigen Auftrieb gegeben hat. Das hat mich echt beeindruckt und davon berichte ich jetzt sehr gern und sehr oft.

Kristin Thielemann: Oh, wie schön. Machst mich jetzt ganz verlegen. Aber ich habe noch in der Vorbereitung zu diesem Podcast gedacht, dass ich mein Konzept der Musikpatenschaft, was ja wirklich sehr einfach und schnell für uns als Lehrkraft im Einzelunterricht umsetzbar ist, um das Thema Nähe und Distanz in diesem Peer-to-Peer Kontext ergänzen sollte. Und ich denke, dass dies auch diese schönen Formate der MusikmentorInnen-Ausbildung, die es ja jetzt schon vielerorts gibt, auch ein Thema ist oder sein sollte. Es ist wie immer: Im Austausch miteinander, in der regelmäßigen Fortbildung, in der Ergänzung guter Konzepte liegt eben die Kraft. – Liebe Friedrun, herzlichen Dank für das Gespräch zu diesem wichtigen Thema. Schutzkonzepte, Nähe und Distanz im Instrumental- und Gesangsunterricht. Ich nehme aus unserem Gespräch heute mit, wie wichtig es ist, es potenziellen Täterinnen und Tätern so unbequem wie irgend möglich zu machen und zu zeigen, dass wir Musikschulen ein Ort sind, in denen Kinder und Jugendliche sicher sind. Auch nehme ich mit, dass wir viel Gutes für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vollbringen können, indem wir dieses Thema immer und immer wieder auf die Tagesordnung setzen und eine Beschäftigung im Kollegium hiermit stattfindet. Indem alle, auch die neuen Lehrenden im Team, diesen Weg der Bewusstmachung von Gefahren gehen müssen, indem Maßnahmen bei der Raumgestaltung ergriffen werden, auch indem es präventive Maßnahmen gibt. Indem wir uns selbst in unseren Gewohnheiten, in unserem Verhalten den Schülerinnen und Schülern gegenüber reflektieren. Ich danke dir, dass du heute dabei warst, und ein herzliches Dankeschön geht auch an euch, liebe Hörerinnen und Hörer von «Voll motiviert». Ihr findet wie immer hilfreiche Links und ergänzendes Material in den Shownotes und wir vom «Voll motiviert»-Podcastteam freuen uns, wenn ihr uns weiterempfehlt oder uns verlinkt.